Bodensee
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14. Mai, Von Leipzig über Leipheim

Man steht morgens um vier in Leipzig auf und ist zum Mittagessen schon in Sigmaringen. Morgens Schkeuditz, Wurzen, Kitzscher und Trebsen, mittags Dillingen, Lauchingen, Ehingen, Munderkingen …
Hügel, es wird runder, geschweifter, Leipheim, und als ich denke, wie paradiesisch, können wir Leipziger von träumen, sagt der Schaffner in Gundelfingen zu meiner Fahrkarte: „Ach, aus der Heimat!“ mit sächsischem Dialekt.

Aber in Sigmaringen ist endgültig Schluss mit der Heimat, als eine Frau ihren Mann am Imbiss fragt: „Uu, mocht di wos oa?“ Ich stutze und überlege, was das heißt. Wenn mich einer anspricht, was soll ich denn bloß antworten?

Im Bus nach Herdwangen wird mir wohler, als sich die eingefleischten Einheimischen alle als Fremde entpuppen: „Können Sie mir sagen, wie man nach Wald kommt?“ - „Wald! Ist das ein Ort? Tut mir leid, ich bin auch nicht von hier.“ - an den Hintermann gewandt: „Sie?“ - „Nein, nein, ich bin aus Dortmund“ - „Ach du Gott!“ - „Ich wollte nur mal an den Bodensee.“ - „Wen kann man denn mal fragen?“

Fichten, Kiefern, Linden, Bächlein, und abends in der Kunsthalle Kleinschönach, auf steilem Hügel angekommen, denke ich: Wer hier nicht Landschaftsmaler wird!

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15. Mai, Im Osten geht die Sonne auf … Große, hohe Fensterfront, Panorama mit weiter Wiese und Wald, leichte Abhänge, Häuser und ein Kirchlein - das ist der Blick aus meinem Atelier.
Gerade aufgewacht, klettere ich die Sprossen vom Hochbett hinab und werde von der Sonne erschlagen. Ich sehe nur die Baumgruppe schwarz und schwer im Gegenlicht, wie einen Paukenschlag. Trompeten und Posaunen, Trillerpfeifen und ein kreischender Chor. Wie soll man so etwas zeichnen? Das Bild müsste ziemlich erbarmungslos auf den Betrachter einstürzen. Ich ziehe dann doch die Jalousien herab und sperre das ganze Theater erstmal aus. Blinzelnd Frühstück.

… im Süden nimmt sie ihren Lauf

Die Sache wird bald entspannter, bläulicher mit Wolken. Ich zeichne jetzt, was ich vorhin sah: Das Feld hat silber in die Augen gestochen. Nun nehme ich schon gelbes Papier, weil Gelb irgendwie sticht, und doch ist es nicht das, was es war.

Gerade betrachte ich Bilder meiner Künstlerkollegen, die mir das Stipendium hier verliehen haben, die hier dauerhaft in der Kunsthalle arbeiten, manche hier wohnen, alle in großen, schönen Ateliers. Es überwiegt, glaube ich, abstrakte Kunst. Für mich sehr reizvoll, komme ich doch aus einer eher figürlichen Gegend und habe noch nie ein abstraktes Bild gemacht. Fritz Marburg, wohl der einzige Figürliche hier, hat mir bei meiner Ankunft erzählt, wie schwierig es damals als Firgürlicher in Kassel war, es war sozusagen nicht erlaubt: Nazi-Kunst und dann DDR. Der Westen war so abstrakt wie die DDR figürlich, das weiß man heute kaum noch. Heute obliegt es zum Glück dem eigenen Belieben, denn, blendet die Sonne und gerät man mit gekniffenen Augen ins Taumeln, kann man nicht malen, was die Augen gesehen haben, sie haben ja nichts gesehen. Ja, ich sollte die Sonne abstrakter malen!

… im Westen wird sie untergehen

Jeden Mittwoch Abend treffen sich die Künstler der Kunsthalle, mit Chips - heute Prosecco, um mich einzuweihen. So viele Anregungen und Bild-Vorschläge: etwa die Rentner und Touristen in Überlingen! Als wir uns verabschieden, ist es dunkel, was meist dazu führt, dass es im Kopf hell wird. Er macht jetzt Licht an.

Wenn die Sonne untergeht, tritt ein kleines Jenseits ein.
Morgens noch: Wie soll ich das alles schaffen, keine Zeit, es ist schon eng, bevor es begonnen ist.
Abends nun: Zeit vorüber, Zeitlosigkeit. Man muss nichts mehr tun, und wo kein Müssen ist, ist Wollen, ich male im Kopf.

… im Norden ist sie nie zu sehen

Ich weiß nicht: Wenn etwas nicht ist, wie kommt man überhaupt auf die Idee, davon zu sprechen? Ist das abstrakte Kunst?

In ihren Anfängen gab es die Sorge, dass mit der abstrakten Kunst eine Welt untergeht, ein Weltuntergang. Ich denke an den Wolf im Ragnarök, der die Sonne verschlingt, an die Sonnenfinsternis. Sedlmayr hält abstrakte Kunst für etwas Widernatürliches, Unmenschliches („Verlust der Mitte“), Lützeler für den Ausdruck des tiefsten menschlichen Inneren.

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16. Mai, Groß - Klein ? Kleinschönach ist so klein wie der Name sagt, wirklich nur ein paar Häuser groß. Geht man einmal um die Kurve, ist es auch schon zu Ende: ein durchgestrichenes Ortsschild, Großschönach. Für den Fremdling macht das keinen Unterschied.

Heute bin ich auf die andere Seite gegangen und habe das Atelier von dort aus gezeichnet. Man kann sich gut an den leichten Abhang setzen und wird eigentlich nie gestört.

Außer einem Straßenreiniger, so einem dröhnenden Monstrum, das die Fahrbahn auf und ab kraucht, fährt nicht so oft ein Auto vorbei. Es ist still, man braucht keine Uhren, hier rupft man nur Unkraut, schaukelt oder fegt die Spinnen vom Haus. Ein Brunnen plätschert, Vögel zwitschern, Kinder schnattern. Die Künstler haben mir erklärt: „Was, Bodensee? Nein, das hier nennt sich Bodenseehinterland, nur weil der Bodensee so überlaufen ist, kommen immer mehr Leute ins Hinterland. Die denken dann, sie sind am Bodensee.“ Aber 12 Kilometer sind doch nichts! Wenn man aus Leipzig fünfmal in Bahnen und Busse umsteigt, und am Ende ins Taxi, um bis hierher zu kommen, dann denkt man, es riecht schon nach Wasser. Ich rieche es auch schon, ob ich morgen mal hinfahre?

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17. Mai, Waldluft Wohin man auch geht: Wald. Nicht viele Straßen, so fahre ich immer wieder ein und dieselbe hoch und runter und finde den Anblick jedesmal anders. Diesmal bin ich aber abgezweigt, in den Wald hinein.

Sind nicht besonders einladend, diese breiten Schneisen, von riesigen Forstmaschinen reingefressen und dann mit Schotter ausgestreut. Ich fahre also den gewölbten Schotter, in sengender Sonne immer geradeaus, doch über kreuz sind ständig, Wege kann man das nicht nennen … - als wäre ein Panzer durchgewalzt und hat alles zerschnipselt und zerhechselt, Strauch, Schlamm, Berg, Tal, hat überall Rinnen hinterlassen, mit tiefen Löchern, dass darin Wasser steht. So beeindruckend, dass ich beim Anblick der ersten Walzspur glatt vom Fahrrad falle, in den Schotter, glücklicherweise ohne Schaden, um danach etwas vorsichtiger zu sein: Ich steige jetzt zum Gucken bei jeder Schneise ab.

Welch hübsches Bächlein! Wie ich so lausche, rast ein Rennradfahrer vorbei, waghalsig um die lauten Schotter-Kurven, das Bächlein hat er jedenfalls nicht bemerkt. An jeder Kreuzung Schilder. Beim Anblick der Schilder entpuppt sich das Ganze als Labyrinth: es heißt nämlich in jede Richtung: Wanderweg. Links: Wanderweg, rechts: Wanderweg, zurück: Wanderweg, vor: Wander … Nun ja, so groß wird der Wald schon nicht sein.
An irgendeiner Kreuzung steht etwas Sinnvolles, Ebratsweiler, Lautenbach und anderes. Ich fahre Richtung Ebratsweiler, da kommt eine nächste Kreuzung. Und was sagt das Schild? Rechts: Wanderweg, links: Wanderweg. Ich nehme einen, der mir sehr logisch erscheint, und wie ich so fahre, und fahre, und fahre, kommt mir der Weg ganz bekannt vor, ach, da ist ja wieder das Bächlein von zu Anfang!

Wer Lust hat, sich mal für ein Weilchen zu verlaufen und wie Hänsel und Gretel nicht mehr zu wissen, wie man wieder heraus kommt, der geht einfach hier in diesen Wald. Jetzt ist mir einiges klar: Deshalb ist der Radfahrer so gerast, der wollte endlich hier raus! Ich überlege, falls man verwildert, und hier gut zurecht kommen sollte, ob einen die nächste Forstwalze dann aufgabeln und wieder in die Zivilisation zurück zwingen würde. Sind wilde Menschen denn überhaupt erlaubt? Seltene Vögel gluckern - das Plätschern und Knarren klingt so anders, wenn man den Weg nicht weiß, immer wieder an toten Waldecken vorbei, an Baumschlachtfeldern. Da ich nun also im Kreis gefahren bin und die Zeit schon recht fortschritten ist, nehme ich mir Ebratsweiler für später vor und fahre den bekannten Weg nach Hause, immerhin mit drei Aquarellen im Gepäck.

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19. Mai, Seeluft Endlich Bodensee! Überlingen! Ich hatte nicht die geringste Vorstellung. Vorbei an Souvenirs, feinen Leuten mit bunten Krawatten und Hüten, dicken Rentnern in großen Palmenmustern, Rollatoren, Cowboys, Leuten mit Eis in Liegestühlen um einen Kindersandkasten drumherum, vorbei auch am gewaltigen Münster, Restaurants und Hotels, dort, wo immer mehr Rücken auftauchen, wo sich Rücken an Rücken zwischen prächtigen Blumen tummelt, dort ist endlich der Blick aufs Wasser.

Früh am Vormittag zeigt sich das Wasser in seiner allerschönsten Pracht, silbrig und still, in kühlen Nebel gehüllt ist, fast ohne Ufer. Hier könnten Schwäne und Elfen tanzen, tatsächlich: Schwäne! Und merkwürdige Enten. Eine Entenfamilie - so winzig kleine Küken zwischen so schweren Rundfahrtschiffen.

Ich besuche Sigrun Janiel in ihrer Ausstellung, Fotografin, aus der Kunsthalle Kleinschönach. Sie sagt, obwohl hier direkt das Zentrum ist, kommt kaum ein Tourist in die Galerien. Die kaufen nur Kommerz-Kitsch an der Promenade, ich verstecke schnell mein pinkes Cappy mit dem Bodensee-Label. Wir plaudern lange, als düstere Wolken aufziehen, ausgerechnet, als ich losgehe. Schon blitzt es, Donner. Und was für Donner! Hier am Bodensee, so bei den Alpen, klingt Donner ein bisschen anders als bei uns in Leipzig. Man fühlt sich direkt persönlich angesprochen. Da rennen alle, Krücken und Rollatoren voran, ich dann auch, und quetschen sich unter das Dach der Bushaltestelle. Einer atmet dem andern in die Nase und tropft ihm mit der Kapuze ins Genick. Bis der Bus kommt noch eine halbe Stunde! Ein Rentnerpärchen sitzt zusammengerückt mitten drin und schmökert einen Roman, ein türkisches Kind in gepunktetem Käferfell springt immer wieder quietschend raus, der Vater rennt, wird nass und holt es unters Dach.

Der Bus wird voll, alle hauchen und dampfen, dass die Scheiben beschlagen, man sieht absolut nichts, aber ich genieße die Vorstellung von der schönen Landschaft, die dort zu sehen sein müsste.

Ich steige in Herdwangen aus mit ein paar anderen. Da stehen wir wieder unterm Dach und warten, das heißt - ich warte, und sehe verblüfft zu, wie das Rentnerpärchen neben mir sich ausrüstet mit Capes, Brillenschutz, Taschen am Fahrrad, alles komplett wasserdicht, ohne Worte zu machen absolut professionell wie für eine Tauchtour, fehlt nur der Schnorchel. Schon zischen sie im schwersten Regenguss davon. Naja, denke ich dann, und mache mich auch auf, fünf Kilometer mit dem Fahrrad, nass wie in der Badewanne. Das Wasser läuft schneller in die Schuhe rein als wieder raus, Fußbad auf dem Fahrrad, sozusagen Kneippkur, bis ich wie ein Schiffbrüchiger in der Kunsthalle ankomme.

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21. Mai, Dauerregen In meinem Buch über Vechta, das kürzlich erschienen ist, schreibe ich ja so viel über Regen, aber ich kannte den Bodensee nicht! Seit vorgestern Dauerregen.

Gestern bin ich garnicht mehr raus, und fand das sehr schön, Schulfrei sozusagen, ordnete alle Sachen, pflegte den Muskelkater …

Doch heute - heute will ich wieder los, erholt und vom Vortag durchgewärmt, warte auf den morgendlichen Weckschlag der Sonne - Sonne? Als es irgendwie nicht hell wird und ich mal nachsehe, was los ist, sieht’s aus wie, naja, wie gestern, Regen. Trotzdem raus und malen? Es laufen Ströme von den Hügeln, wir Flachländer kennen ja nur Pfützen, aber hier läuft alles, was die hügeligen Wälder so ansammeln und nicht ganz aufsaugen, über die Bäche und macht noch mehr Bäche. Wo vorher Straße und Weg war, steht man jetzt knöcheltief in einem Sog, das läuft alles in die Täler hinunter!

Wieder in die Stadt? Cafés, warme Plätze, da kommt man beim Zeichnen besser weg als im Wald. Diesmal lasse ich mich von Fedor mit dem Auto nach Herdwangen bringen, fahre dann mit Bus, und steige genauso schick-trocken in Überlingen aus wie die Touristen. Nun, viele sind es heute nicht, der Bodensee ist umso schöner, Wellen wie am Meer, blaugrün, aus den Bergen steigt Dampf und zur einen Seite ist garkein Ufer zu sehen, so schön, dass ich doch vergesse, im Trockenen zu bleiben, stehe da zeichnend im Regen.

Besonders gut sitzt man im Rathaus. Dort ist zwischen starken Säulen aus Stein ein stylisches Café mit dunklen Ledersesseln und Selbstbedienung, heißt, mit leckerem Tee und Croissant Leute zeichnen. Ein alter Herr mit Kaffee und einer Praline auf dem Tablett sucht unsicher nach einem freien Platz. Ich erlaube ihm, sich mit an meinen Tisch zu setzen, so kommen wir ins Gespräch. Er war schon öfters in Überlingen, fährt mit 78, so lange es geht, Fahrrad, auch heute bei Regen. Weil vor Jahren seine Frau gestorben ist, da sagten seine Kinder: Papa, du darfst dich nicht hängen lassen, und heute ist er froh, was er noch alles erlebt. Ich frage ihn, wo er ursprünglich herkommt, aber verstehe nicht ganz: „Aus Si**gen“, aus Singen wahrscheinlich, „Ah, aus der Nähe.“ - „Joa, fünfhundert Kilometer.“ - Oh, er muss Siegen gemeint haben und denkt jetzt sicher, ich sei verrückt. Mit Kunst könne er nichts anfangen, er sei Techniker. Nach dem Abschied fange ich an, zu zeichnen.

Da sind Zweie, ein älteres Pärchen, hübsch nebeneinander, jeder mit einer Zeitung und solange ich sie beobachte, sprechen sie nichts, aber nehmen immer beide die gleiche Körperhaltung ein. Beugt er sich vor, beugt sie sich auch, lehnt sie sich an, so auch er, sogar die Köpfe gehen immer gleich, und sie bemerken es nicht. Das ist so ausgesprochen schön, dass ich selbst garnicht bemerke, wie ich ebenfalls beobachtet werde. Eine ganze Weile später spricht mich eine Frau vom Nebentisch an: „Die beiden sind gut, nicht? Ich habe Ihnen zugesehen, wie Sie die Leute da zeichnen. Ich weiß nicht warum, aber das Pärchen hat was!“

Eigentlich stecke ich in einer Krise, wie immer in einer neuen Gegend. Die Texte werden immer länger, die Bilder immer rarer. Denn ein Zeichner ist einer, dem das Zeichnen besonders schwer fällt.

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22. Mai, Betrachtung

Das konnte ich mir nicht entgehen lassen: Wenn alle so schön aufgereiht aneinander sitzen, muss ich mich dahinter stellen und das zeichnen. Auch wie sie im Gänsemarsch auf wackeliger Rampe das Rundfahrtschiff erklimmen.

Vielleicht erinnert es an Ameisen. Ja, die Ansammlungen sind organisiert. Denn das Ufer ist eigentlich lang, überall könnten die Leute stehen, aber nein: Wo keine Promenade gebaut ist und nur wildes Gebüsch wächst, wird schon garnicht mehr auf den See geachtet, obwohl er dort keinen wesentlich anderen Anblick mit Alpen bietet. Nur wo Bänke, Cafés und Blumenbaracken eine Art Kultstätte ausweisen, wo Rundfahrtschiffe anlegen, ein großartiger Brunnen steht, folgen die Menschen dem Ruf, hier strömen sie hin, wie an einen Hain, in einen Tempel, halten inne, meditieren und erst hier betrachten sie das Wasser, alle miteinander. Es heißt immer, man weilt hier vor großartigem Ambiente, dem Wasser und den Alpen, aber in Wahrheit braucht das Wasser Ambiente.

Will ich das zeichnen, sehe ich die Menschen als Typen, eine Ausstellung von Frisuren, Jacken, Haltungen und was man an Rucksäcken und Geräten so alles dabei haben kann. Typen sind auch äußerlich organisiert, hier auffallend viele in Funktionskleidung wie für Profi-Sport, unabhängig von ihrer tatsächlichen Betätigung und Verfassung, Sonnenbrillen im Haar, mir scheint, jeder hat eine Sonnenbrille im Haar, graues, halblanges Haar, Natur, Bio, Grün, Elektrofahrrad. Nein, es gibt auch Autofahrer in Anzug mit Fliege oder roten Hackenschuhen, ich muss das beim Zeichnen noch mal überprüfen.

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24. Mai, Walhall Die Kunsthalle ist ein langes Gebäude, ein sehr langes, zum Bad geht es im Fünfzigmeterlauf, zur Küche genügt Schritttempo, wenn man Zeit hat, und mein eigenes Atelier kann eine ordentliche Theaterbühne füllen. So drehe ich täglich meine Runden und denke immer an Walhall, das wird ja in der Edda als gigantisch groß beschrieben, Odin versammelt hier seine Auserwählten.

Und die Mieten - das kann ich nicht in Leipzig erzählen, sonst steht die ganze Künstlerschaft morgen vor den Toren und will „walkürt“ werden.

Die Künstler hier sind sehr vielseitig und vor allem Handwerker: Holzbildhauerin, Fotografen, Designer, Zimmermänner, Goldschmiedin u.a. In der Halle stehen kolossale Ersatz-Holzräder für Odins Wagen bereit, für seinen achtbeinigen Sleipnir. Robert Steward hat sie gebaut, er ist vor ganz kurzem verstorben, aber alles steht noch, als müsste er dort zugange sein. Er war in der Jury zur Vergabe dieses Stipendiums, und wie ich erfuhr, fällte er die endgültige Entscheidung für meine Bewerbung. Ich hätte ihn zu gerne kennengelernt, nun zeichne ich die Tür zu seinem Atelier, man kann auch rein, vielleicht später …

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25. Mai, Über Putten und Ränder Diese Sträßchen zu zeichnen ist nicht ganz einfach: Obwohl kaum Menschen da sind, ist immer irgendwer genau dort, wo man hätte stehen wollen, sprüht sein Auto mit Hochdruckreiniger ab, oder macht das Dorf durch sonstige Maschinen in der weiten Landschaft hörbar.

Heute denke ich immer an gestern. Christine Koch, Bildhauerin in der Kunsthalle, hatte mich zum Abendessen eingeladen, und erzählt, wie sie in der Ausbildung barocke Putten kopiert hat. Man muss eine Figur immer von innen nach außen denken, man muss sich in den Stein hinein versetzen und ihn beleben. Die Form entwickelt sich von der Mitte heraus, die Figuren sind schon da, und wollen aus dem Block befreit werden, das kann nur, wer eine genaue Wahrnehmung von seinem eigenen Körper hat - und dabei macht sie wie ein Schauspieler, der eine Figur darstellt. Wer die Figur ist, kann sie auch darstellen. Ich bin begeistert, so habe ich das noch nie gesehen. Denn schon immer gibt es für mich nur Linien, mit ihnen hat alles seinen Anfang: Ich fahre mit den Augen ständig die Außenkanten der Gegenstände ab, für mich gibt es nicht einmal die Tischfläche, nur die Ränder, wenn die erstmal da sind, schließen sie die Materie ein und machen, dass es Körper gibt - und nun mache ich so Bewegungen, nicht als wäre ich die Figur, sondern reiße eine Spur in die Luft bis eine Form entsteht.

Wir hatten einmal in der Schule die Aufgabe, aus einem Gipsblock eine Figur zu formen, für mich ein Mysterium. Denn es hat ja schon irgendeine Form, man feilt daran herum, ohne das geringste Bewusstsein, wo das hin führen soll. Die Figuren sind so räumlich, wie alles um uns, wir selbst sind räumlich, so stellt die Skulptur die Welt nicht dar, sondern steht selbst drin, ist Teil von ihr, sie ist kein Bild. Bildhauer schaffen Wirklichkeit, oder machen sich an der Wirklichkeit zu schaffen. Stehe ich vor einer Skulptur, stehe ich vor einem Rätsel, denn gewachsen ist sie ja nicht, jemand hat sie geschaffen, wie so ein Schöpfergott, Bildhauerei ist überirdisch. Aber Zeichnen verstehe ich, es ist zweidimensional, aber nicht wirklich, entzieht sich der Haptik, ist darum entrückt, ist eindeutig Gedanke, eine Überlegung, ein richtiges Bild, flüchtig, fragil, nicht überirdisch, sondern was jeder von uns im Kopf hat.

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26. Mai, Wahlen Ein Kommen und Gehen. Sonst ist es so still hier in Schönach, aber heute kommt einer nach dem anderen mit braunem Umschlag ins Wahllokal, direkt hinter mir, wo ich sitze und diese Zeichnung mache (erstes Bild). Alle sind fröhlich, zwischen Sonntagsausflug und Aufbruchstimmung.

Ob man hier so denkt wie in Leipzig? In Leipzig wollen alle immer alles ändern, wir brauchen einen radikalen Umbruch. Freitags verweigern Teenies die Schule, um das Klima zu schützen, verabreden sich übers Internet und Handy, stehen mit Mikro, aufgedrehtem Ghettoblaster und bunten Haaren, und schimpfen auf alte Leute, die der Jugend die Zukunft verderben. Die Alten, die den Teenies alles geschenkt haben, müssen sich nun verteidigen: „Wir kannten keinen Klimaschutz, wir hatten ja keine Handys und kein Internet und kein Auto. Die ganzen Geräte, kein Plastik, zum Einkaufen eigene Gläser und Stoffbeutel. Nichts zum Wegwerfen, haben alles gewaschen, Windeln, mit der Hand, keine Waschmaschine, Klimaschutz kannten wir nicht, keinen Trockner, wir haben die Haare nicht bunt gefärbt, hatten nicht mal einen Fön, wir hatten ja damals keinen Strom, und keine Zentralheizung, keine Toilette in der Wohnung, die Straßenbahnen waren mit Pferden … nein, wir kannten früher keinen Klimaschutz.“

Und hier? Was soll sich am schönen Bodensee grundlegend ändern müssen? Tatsächlich wählte man lange Zeit konservativ, und seit einiger Zeit grün. Moment - grün?

Der Großstädter ja, grün ist für Großstädter: in der Stadt fahre ich nie Auto, wirklich nie, selten Bus. Der Städter braucht das nicht: zehn Supermärkte um die Ecke. Und auch sonst keine Maschinen, keine Rasenmäher, keine Benziner, in der Etagenwohnung, was soll man denn mähen, den Teppich? Doch in der Landschaft hat jeder sein Eigentum, Platz! Aus jedem Gärtchen schallen abwechselnd Rasenmäher, Laubsauger und Kreissägen, wird Holz gestapelt zum Heizen, steigt Lackfarbe auf, weil einer seine Zaunlatten weiß streicht. Die Ware in den Läden ist zum Teil aus der Region, aber vor allem geliefert, aus Peru und Mexiko, genau wie in der Stadt, nur dass der Ländler weiter fahren muss, und sich lieber nichts gegen‘s Auto sagen lässt. Und doch, man wählt ausgerechnet hier überraschenderweise grün!

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27. Mai, Badewannen Günter Beier beim Kunstschaffen. Draußen vor der Halle lagen seit meiner Ankunft die Badewannen im Gras gestapelt, ich dachte, die Künstler haben alle neue Wannen bekommen. Nein, Günter hat sie beschafft, und ist nun dabei, mit Flex und Schweißgerät was draus zu machen. Vor Jahren hatte er schonmal so ein Projekt: Er hat Fotos dabei, zum Beispiel wie drei Wannen hochkant einen Raum abteilen, drei Wannen-Ungetüme, die Schulter an Schulter wie Bodyguards keine Lücke mehr zwischen sich lassen, man kann auch nicht drüber, aber dahinter geht der Raum weiter, da lässt sich eine Tür erahnen, hoffentlich doch nicht die Eingangstür, denn dann wären wir eingesperrt. Es war als Mahnmal gedacht, nachdem in den 1920ern Menschen in Wannen mit heißem und kalten Wasser ruhig gestellt worden sind mit der humanen Absicht, auf Spritzen und Fesseln zu verzichten. Ein positiv gemeintes Mahnmal.

Das Kunstwerk solle nicht erzählerisch sein, es soll nichts darstellen und nicht in Worten beschrieben werden, sondern nur seine Aura entfalten. Kunst sei einfach da - oder „dada“ - wie etwas Spirituelles, Mystisches, sie müsse sich nicht erklären, sie wirke direkt auf den Betrachter ein und stehe absolut für sich.

Eine Kunstrichtung, mit der ich bisher kaum etwas zu tun hatte, so denke ich nun darüber nach, gehe ein bisschen spazieren, suche auf dem Hügel, was man zeichnen könnte. Wald? Weiß nicht. Häuser? Schon wieder? Wolken? Von der Kunsthalle Krach, Günter mit Hammer immer gegen die Badewanne …

Ruhe. Häuser? Hach nein. Wolken? Wieder Lärm: jetzt die Flex an der Wanne, und Funken. Ja, denke ich, kehre zurück, laufe dreimal auf und ab, und bin jetzt ganz sicher: das muss ich zeichnen. Ich bekomme dann tatsächlich die Erlaubnis, ganz unkompliziert, kein Problem. Vernünftige Arbeitsatmosphäre.

Der eine schafft ein massives, dröhnendes Kunstwerk, der andere ein luftiges, zerbrechliches, der eine ein autonomes, der andere ein „erzählendes“, der eine entfremdend, der andere vermittelnd, einer knieend, gebeugt, herumgehend, gegenstemmend und hebend, einer starr und angespannt sitzend, größer können die Gegensätze nicht sein. Aber beim Abschied kommen wir zur selben Erkenntnis: Das Werk wird dann am besten, wenn man garnicht dran denkt, wenn man nebenbei Musik oder einen Vortrag hört, wenn man sich ums Werk garnicht kümmert, es wird auf einmal von ganz allein.

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29. Mai, Die ewige Suche Immer, wenn ein Bild entstanden ist, und man vor vollendeten Tatsachen steht, kommen Wolken aufgezogen und schütten lange Wasserstrahlen herunter, schießen einmal sogar Hagel, und das hat garnichts mit dem Wetter zu tun. Man hätte anders zeichnen sollen. Nicht nur hier und da, sondern grundsätzlich. Ich möchte einen Kopfstand machen, und stelle verzweifelt fest, wieviele Köpfe da sind, zu allen Seiten.

Was der Kunstmarkt besonders schätzt, ist ein Künstler mit nur einem Kopf. Man müsste demnach mit dreißig einen Stil entwickelt haben und mit siebzig noch genauso malen, damit der Künstler sofort erkennbar ist wie eine Marke. Mit jedem Bild dasselbe sagen, niemals an sich zweifeln, und dabei so tun, als wenn man zweifelt - „alles hinterfragen“. Aber was von dem „eigenen“ Stil abweicht, ist nur eine kleine Verirrung, Frühwerk, oder Spätwerk, oder Depression, jenachdem, jedenfalls nicht das Eigentliche. So hat einer immer sein Blau mit leichten Varianten, ein anderer immer Netze, und macht der Blaue einmal Netze, kopiert er! Bleib er mal bei seinem Blau! Und macht er Ocker, ist das neunzehntes Jahrhundert, macht er Rosa, gab es das auch schon irgendwo in Amerika. Man muss etwas Neues machen! Der Markt braucht immer Neues.

Aber wer zu viel Verschiedenes zeichnet, ist unentschieden, hat garkeine „Handschrift“, so eine Kritik zu meinen Bildern. Folglich ist so eine „Handschrift“ nichts Individuelles, was jeder ohne Absicht hat, ohne daran zu denken. Sondern „Handschrift“ meint ein Markenzeichen, einen Effekt, eine bewusste Methode oder Masche, die sich unbedingt von allen anderen unterscheiden soll. Die zu entwickeln ist das Größte, nicht die Annahme, einzigartig zu sein, sondern das Ziel, sich einzigartig zu machen.

Alle wollen oben schwimmen, strampeln sich mit ihrer „Einzigartigkeit“ nach oben, alle Einzigartigen wie im Schwarm frischer Pinguine, die an Land müssen, strampeln an mir vorbei, und ich hänge da irgendwo zwischen Seetang und Korallen. Das schlimmste daran ist: Ich bin gerne hier! Der wichtigste Grund, weshalb ich zeichne, ist, weil mir noch nie ein Bild richtig gelungen ist. Ein Papier ist schnell ausgereizt, aber die Überlegung erst am Anfang. Ich bin zu noch keinem Schluss gekommen, muss alles immer nochmal anders formulieren.

„Von allen Stimmen, die aus mir sprechen, ist meine die schwächste.“ (Martin Walser) Aber welche ist das?

„Was alles muss man, weil man nicht stark ist, auf sich nehmen!“

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30. Mai, Himmelfahrt, Sigmaringen Die Kunsthalle ist schon erstaunt darüber, wie hier jeden Tag Post, Päckchen und Briefe kommen: „Wieder von demselben! Ihr müsst euch ja vermissen!“ - Ja, natürlich! sage ich, und strahle dreimal gelber als die Sonne.

Heute kann Christoph das erstemal aus Leipzig herfahren, in Sigmaringen hole ich ihn ab. Dort habe ich etwas gezeichnet und alles anders gesehen als beim erstenmal allein.

Das Schloss ist gewaltiger und viel größer, trutziger und gleichzeitig phantasievoller, die Stadt verwinkelter, die Donau wie in Holzschnitten von Hokusai, zu zweit isst man Käsespätzle und Maultaschensuppe in der „Traube“, entdeckt eine Gedenktafel zu Hans Kayser, der wichtige Beiträge über die Harmonielehre der Griechen geschrieben hat, „harmonia aphanes“ - die unsichtbare Harmonie (ist gewaltiger als die sichtbare)! Auch hier sind Götter: Heraklit in Sigmaringen, gleich neben der „Traube“. Kayser hatte Kontakt zu Paul Klee!

Man sieht nur Touristen, ich weiß garnicht, wie Einheimische aussehen müssten. Nur sehr sportliche, fitte Rentner mit Helm, Hosenpolster, Fäustlingen und Rennradschuhen, mit denen sie die Füße ans Pedal fest klemmen können, und wenn sie sich das erste mal nach fünfzig Kilometern vom Sattel lösen, humpeln sie wie gestrandete Schildkröten. Und Biker! Mit Tatoos, Haarsträhnen, die sie seit den 70ern nicht mehr gewaschen haben, Leder in schwarz und spitzen Westernstiefeln.

Zeichnen würde ich am liebsten alles, aber wir wollen heute noch weiter, nach Überlingen! Hier nun einige Skizzen: zwei Fotografen, Mann und Frau, fotografierten mit ihren Profikameras exakt jeder dasselbe, im Hintergrund eine Gruppe Rentner mit Wanderstöcken, hinter ihnen übrigens: Kaysers Geburtshaus mit der heraklitischen Tafel. Und zweitens eine Zeichnung von Wartenden am Bahnhof.

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31. Mai, Die Alpen Christoph hatte fast jeden Tag am Telefon gefragt: „Und die Alpen? Siehst du die Alpen?“ Also ich weiß ja nicht, hier sieht man solche Hügel, aber Alpen? Du meinst mit Schnee? - „Du bist lustig, die musst du doch da sehen!“ - Nein, tut mir leid. - „Aber im Internet sieht man sie doch! Oder ist das Fake?“ - Hier in Kleinschönach? Nein, in Überlingen auch nicht. Muss Fake sein. Aber vielleicht sehe ich sie auch einfach nicht. Aber wenn du kommst, wer weiß, du siehst dann welche und zeigst mir, wo die Alpen sein sollen.

Und was soll ich sagen: Genauso kam es! Gestern auf der Busfahrt nach Überlingen, was offenbart sich da? Christoph ruft: „Aber da sind doch die Berge!“ - Oh, ja stimmt, ich war völlig verblüfft, tatsächlich: unglaublich schöne Berge! Es war sonst immer Regen, Nebel, Dampf ist zwischen Hügeln aufgestiegen, man sah manchmal kaum die Kirche in nur einhundert Metern Entfernung. Aber heute ist klare Luft, alles durchsichtig und weit, mit weißer Zeichnung heben sich die Berge in scharfer Linie gegen den Himmel ab! In Überlingen am Bodensee angekommen, bietet sich das erstemal ein Panorama, das meine Vorstellungen noch weit übertrifft, wie ein Zauberbild steht dort der Säntis, aber nicht nur der: eine lange Kette von Bergen!

Merkwürdig: Wie hier die Sonne brennt, liegt dort kalter, eisiger Schnee. Ewiger Schnee. Leute ziehen sich aus und baden, hinter ihnen frieren die Berge. Man sucht die ganze Zeit mit angestrengtem Auge, ob ein paar Verrückte am Berghang hängen. Wie wir nach Nußdorf spazieren, immer am Ufer entlang, haben wir ohne Unterbrechung diesen Anblick, der Vordergrund verändert sich: Häfen voll kleiner Boote, hunderte von Booten, Badestrände, Villen, moderne Luxuswohnungen mit Balkonblick auf die Alpen, Grün, noch mehr Villen. Irgendwo soll Martin Walser wohnen! Hier, Gärten direkt am Wasser, Bänke und Stege, ob er hier sitzt? Grüne Wiese, oder hier vielleicht! Bei jedem Blick um einen Busch, in einen Garten, auf eine Bank, denken wir, dort sitzt er doch, und schreibt Meßmers Gedanken:

„Immer sah ich die Sonne nur untergehen.“

„Ich sehe zu, wie Vögel gejagt werden von etwas, das nicht fliegen kann.“

„Das Stück Grün. Sofort die beschämende Empfindung: es gehört dir. Die schlimmste Wirkung des Kapitalismus: daß man glaubt, alles, was man bezahlen könne, gehöre einem.“

Ich denke immer daran, wie er die letzte Sendung des philosophischen Quartetts zu erheitern wusste, als Rüdiger Safranski das erstemal nicht dabei war. Walser war die Kapelle, die auf dem sinkenden Schiff noch spielt.

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1. Juni, Meersburg Der Busfahrer, als sich immer mehr Fahrgäste ansammeln: „So, wollta Measboog aoban.“ - ach, etwa ein Brandenburger? Das wird sich bestätigen, als wir hören: „näße Haltestelle“ und „machn wat so.“ Von den Touristen sind viele Schweizer, sie kommen über die Feiertage kurz mal vom anderen Ufer herüber und genießen einen billigen Urlaub.

Die Anfahrt nach Meersburg wird ohne Unterbrechung vom Alpenpanorama begleitet, vom blauen Bodensee und Hunderten kleiner weißer Segel in der Ferne, vorbei an der berühmten Wallfahrtskirche Birnau inmitten weiter Weinberge - Man wird fast verrückt, wenn man bei dem Anblick nicht aussteigt und zeichnet, aber wir wollen weiter.

Es sind nur 15 Kilometer zwischen Überlingen und Meersburg, und zugleich eine Weltreise: Abgründe, Himmel, Wasser. Es geht steil bergauf, dort erhebt sich die Burg, würdig, kühl in der sengenden Sonne, steinern und schwer auf grünen Höhen. Der Bus fährt uns bis nach ganz oben, wir überspringen einfach alles, wofür die Burg gedacht war: Unnahbarkeit.

Annette von Droste Hölshoff kannte sie noch, die bedrohliche Aura, sie hat zehn Jahre lang in der Burg gewohnt bis zu ihrem Tod. Wir stehen vor ihrem Sterbebett, die Fenster sind alle auf den See und die Alpen gerichtet, sie starb mit dem Anblick der Alpen!

Das Alte Schloss

Auf der Burg haus ich am Berge,
Unter mir der blaue See,
Höre nächtlich Koboldzwerge,
Täglich Adler aus der Hö‘,
Und die grauen Ahnenbilder
Sind mir Stubenkameraden,
Wappentruh’ und Eisenschilder
Sofa mir und Kleiderladen.

Schreit ich über die Terasse
Wie ein Geist am Runenstein;
Sehe unter mir die blasse
Alte Stadt im Mondenschein,
Und am Walle pfeift es weidlich,
- Sind es Käuze oder Knaben? -
Ist mir selber oft nicht deutlich,
Ob ich lebend, ob begraben!

Mir gegenüber gähnt die Halle,
Grauen Tores, hohl und lang,
Drin mit wunderlichem Schalle
Langsam dröhnt ein schwerer Gang;
Mir zur Seite Riegelzüge,
Ha, ich öffne, lass die Lampe
Scheinen auf der Wendelstiege
Lose modergrüne Rampe,

Die mich lockt wie ein Verhängnis,
Zu dem unbekannten Grund;
Ob ein Brunnen? ob Gefängnis?
Keinem Lebenden ist’s kund;
Denn zerfallen sind die Stufen,
Und der Steinwurf hat nicht Bahn,
Doch als ich hinabgerufen,
Donnert’s fort wie ein Orkan.

Ja, wird mir nicht baldigst fade
Dieses Schlosses Romantik,
In den Trümmern, ohne Gnade,
Brech ich Glieder und Genick;
Denn, wie trotzig sich die Düne
Mag am flachen Strande heben,
Fühl ich stark mich wie ein Hüne
Von Zerfallendem umgeben.

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2. Juni, Das Tor zum Bodensee Lindau, eine Insel im Bodensee, die sogar mit dem Zug, ohne Schiff zu erreichen ist.

Fragt man hier in Kleinschönach, heißt es: Lindau - das ist ja ganz woanders! Als wir in Lindau ankommen, etwa nach zwei Stunden, wissen wir auch, warum „ganz woanders“: bayrisch, gehoben, viele reiche Leute, Vermieter, Golfer, mit Jachten in Venedig, die Hosen sitzen, die Schuhe blenden, alles glänzt und ist geschminkt. Oder es sitzt garnichts, bei den rotbraun gebrannten Tatoowierten, die sich die weißen Hemden von der Brust aus abwärts soweit zuknöpfen wie es gerade um den Bauch passt - ab Bauchnabel muss es offen bleiben, die mit Goldketten und breiten Beinen im Liegestuhl. Man hofft immer, dass sie schonmal einen Arbeiter von weitem gesehen haben, oder in den Medien was davon gehört.

Wir sehen uns die Stadt an und sitzen dann auch in so einem hellen, feinen Lokal voller vornehmer Persönlichkeiten, mit direktem Blick durch das „Tor zum Bodensee“, links auf die Säule mit dem Löwen, rechts den Turm, Schiffe fahren hindurch in den Hafen.

Leider gelingt mir die Skizze nicht, und später, als Christoph schon im Zug nach Leipzig sitzt, erst recht nicht mehr: Es ist zwar Zeit, aber nirgends Platz - die Sonne drängt alle, Tausende, in jeden letzten Schatten zusammen, ein Chor singt Расцветали яблони и груши, weshalb sich noch mehr hier versammeln. Sobald ein junger Mensch sitzt, kommt ein alter, der sich kaum noch halten kann, die Bänke sind so voll, da muss schon eine Siebzigjährige aufstehen und Platz machen, weil eine Neunzigjährige kommt. Ich stehe irgendwo herum und immer im Wege, irgendwann quetsche ich mich in eine Beton-Ecke auf eine Steinstufe. Da gesellt sich eine Mutter dazu, und lässt ihr Baby um mich herum klettern, an meiner Tasche spielen, sich an mir hochziehen, die Mutter strahlt mich an, weil ich ihr Baby doch sicher allerliebst finden muss. Aber ich Unmensch denke ans Zeichnen und: Kann ja nicht lange dauern, aber doch! Sie gehen nicht, und mein Zug kommt bald.

Es heißt ja von Edgar Degas, er soll sehr unwirsch gewesen sein, absichtlich, damit er in Ruhe malen kann. Doch über mich wird man sagen::

„Wenn er droht, nimmt ihn niemand ernst. Drohungen glücken ihm nicht.“ (Martin Walser)

Eigentlich ist es ein Grundprinzip beim Zeichnen: dass es an irgendetwas scheitern wird. Und doch beginnt man immer wieder.

„Ich schaue dem Tod ins Gesicht und sage: Es gibt dich nicht.“
„Man geht auf ein Loch zu, weiß, daß man hineinfallen wird, und fällt hinein.“
(Walser: Meßmers Gedanken)

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4. Juni, Gestrandete Gestern war Montag nach den Himmelfahrtstagen, aber garkein Ansturm auf die Läden um Kleinschönach, nein, sie waren - geschlossen! Ja, wirklich! Ich hatte mich mit dem Fahrrad zum nächstgelegenen Lädchen aufgemacht: fünf Kilometer immer bergauf durch die harte Sonne gen Herdwangen, und hoffte, die anderen umliegenden Dörfer haben nicht schon alles weg gekauft. Ich hatte ja keine Ahnung, dass montags immer geschlossen ist. Ein Städter vor verschlossener Ladentür kann das nie so richtig glauben, er denkt, wenn er kurz durchatmet und lang genug in die dunklen Fenster starrt, wird der Laden schon aufmachen, aber das klappte nicht.

Also kehrt, alles zurück, diesmal bergab, und nach Lautenbach, wo es wieder bergauf geht, dort ist ebenfalls ein kleines Geschäft. Ich war so clever, eine Abkürzung durch den Wald zu nehmen, die sich dann aber zwei Stunden hinzog. Mein Navi war Schuld, ich schleppte mich manche Wege steil hoch, und sah oben, dass ich falsch war, fuhr wieder runter, sah unten, es war richtig! Wieder hoch, das Handy ortet einen immer auf ganz anderen Wegen hundert Meter weiter. In der Stadt mag es noch gehen, wenn das Navi meint, man steht auf einem Dach oder in der Pleiße, das kann man ja abschätzen - aber im Wald?

Irgendwann fand sich Lautenbach, und auch das kleine Geschäft, es zog schon Sturm auf, bald war es Abend, und der Laden - geschlossen! Montags immer geschlossen. So, nun, weitere Läden gibt es nicht, nicht per Fahrrad, Rufbus nur zweistündig. Das kennt ein Städter nicht, dass man nach vierstündiger Tour noch nichts zu essen kaufen kann, und am Ende ohne etwas wieder heimfährt.

Heute war mir nicht nach einer Wiederholung, wieviel anständiger fährt man doch gleich nach Überlingen, in die Zivilisation. Es ist, als ziehen alle Karavanen und Herden durch die Wüste, Elefanten, Gazellen und Löwen, um an den See zu kommen, dort gibt es alles, Pizza, Döner, Burger, Banken, Handyshops und Discounter, H und M und C und A. Alle, die überleben wollen, stranden hier - stranden nicht, weil sie aus dem Wasser raus kommen, sondern rein wollen, baden, schlendern, kaufen, liegen am Ufer, naschen Eis, füttern Spatzen. Ohnehin gibt es noch so viel zu zeichnen, eine ganze Liste von Motiven ist schon notiert.

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6. Juni, \"Möbelsubjekte\" und Fotografen Dieter und Fedor Zimmermann, Vater und Sohn, der eine immer mit Pfeife, der andere mit Zigarette, der eine Designer, der andere Tischler. Hier ist keine gewöhnliche Werkstatt, man kommt rein mit dem Gedanken, dass in jeder Nische jemand wohnt. Das wird daran liegen, dass hier \"Möbelsubjekte\" hervor gebracht werden, ganz eigenwillige und schöne Wesen: Hier stehen schon die nächsten, Gartenstühle in feinen Farben, jedes Brett anders, eins grün, eins rötlich, eins in Natur, jedes nach seiner Art. Es ist, als wäre ein altes Möbel shoppen gegangen und hat sich gestylt, sodass sein Charakter besonders gut zur Geltung kommt.

Drei kleine Tische mit elegant geschweiften Beinen haben sich wie die Bremer Stadtmusikanten zusammengetan und auf einem Schlitten mit ebenfalls schön geschwungenem Bogen übereinander gestellt. Die schlanke Hochkantkommode in schwarzer Garderobe mit goldig gemusterten Knäufen trägt eine goldene Krone auf dem Haupt, niemals aufdringlich, immer natürlich und freundlich, als würde sie einen im Vorbeigehen grüßen. Wie ich dann erfahre, ist alles aus Resten und Abfällen: \"das abgefallene so zu erheben, daß ihm eine neue würde wird\" (laut Homepage)

Ein Möbelsubjekt bleibt sicher selten allein! Die Zimmermanns haben Aufträge für ganze Einrichtungen ausgeführt, für Läden in Luxemburg, Überlingen, Mosbach, Kindergärten in Freiburg und Köln, einen Besprechungsraum in Lautenbach und andere.

Von Dieter kann man ein Interview lesen: Wie der Direktor der Galerie für neue Kunst in Freiburg die Möbel entdeckt hat, und: \"die GALERIE BLAU, die entdeckten mein Zeug auch zufällig\", jetzt wollten alle gleichzeitig eine Ausstellung machen! Und wie Dieter zum Sammeln gekommen ist, als Kind schon: \"Da hatte ich die Hosentaschen voll Regenwürmer und irgendwelcher schöner Teile; also Sammler war ich eigentlich schon immer.\"

Wie ich in der Halle versuche, die Möbelsubjekte zu zeichnen, kommt Isabel Meyer, Fotografin, mit ihrem Sohn in Kamera-Ausstattung vorbei: \"Ach, hascht du die Stifte auf dem Boden? Nimm dir doch den Tisch!\" - prompt steht ein Tischsubjekt neben mir und schillert in seiner wunderhübschen, seidig-blank lackierten rotsosa Oberfläche. Oh, ist der schön, den kann ich doch nicht nehmen! Kaum gesagt, wird eine Tüte über den Tisch gestülpt. Da sitz´ ich mit eingetütetem Tischsubjekt und darf die Stifte darauf ablegen. Ich zeichne den Tisch, die Tüte denke ich weg. \"Lydia, da du hier grad so schön sitscht, mein Sohn isch am Üben, ob wir einfach ein paar Fotosch von dir machen können.\" Die Idee gefällt mir, das muss ich zeichnen! Bilder über Kreuz, die Kamera zwischen uns, jeder vor des anderen Linse. Isabel hält so ein Gerät in die Luft, um mich irgendwie zu beleuchten, und der Sohn fotografiert. Man kann nicht sagen, wer von uns es schwieriger hat, die beiden legen meine Stifte schöner hin, dass die Stifte gut liegen. Und haben immer mit dem Licht zu tun, und: \"Jetscht sind ihre Augen immer auf.\" - \"Ja Mama, wenn du zeichnen würdescht, hättescht du auch die Augen offen.\" - \"Jetscht isch schön. Darf ich mal den Kragen bischchen zur Seite machen? Der isch immer im Gesicht.\"

Es war sehr schön mit den Fotografen. Jetzt bin ich schon ganz gespannt auf das Foto, war ich denn überhaupt gekämmt? Die beiden in der Zeichnung sehen jedenfalls gut aus!

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7. Juni, Flächenkrise Freitag! Pfingstwochenende! Das zweitemal, dass Christoph in die Gegend kommen kann. Diesmal nach Singen, ganz nah an der Schweiz. Die Stadt liegt völlig flach gedehnt, fast gänzlich ohne einen Hügel, doch hinter ihr steht der gewaltige Hohentwiel, man sieht auf Bildern immer diesen Berg, ursprünglich ein Vulkan, dann ein \"Phonolith-Schlotpfropfen\", von der Eiszeit freigespült. Mit senkrechten Klippen! Wie kann es sein, dass dort oben eine Burg errichtet ist? Bizarr! Während ich immer denke, bizarr, bringt Christoph aus seiner Bibliothek ein paar Grundlagen mit, die Klosterchronik aus dem nahegelegenen St. Gallen des Gelehrten Ekkehard (geboren 980) auf Latein (Casus sancti Galli): Ekkehard schreibt erstmals über eine Burg auf dem Hohentwiel, nämlich dass sie um 915 belagert wurde. Was in der Chronik alles überliefert ist, diente Joseph von Scheffel für seinen historischen Roman \"Ekkehard\" (1855) - einen anderen Ekkehard, sie hießen damals alle so, und den hat Christoph auch dabei.

Während ich immer notiere und skizziere, erzählt mir Christoph, was Ekkehard macht, aber der Berg gelingt mir absolut garnicht, eine einzige Fläche. Ich glaube, die meisten Leute sind Linienmenschen, das sieht man daran, dass sie den Bodensee normalerweise umranden, mit dem Fahrrad, Zug oder Auto, also den Umriss des Sees nachziehen. Oder schwimmen quer drüber, schneiden eine Linie hinein, aber die ganze Fläche aufeinmal, die bewältigt man eigentlich nicht, das wäre wie den See auszutrinken.

Aber wie macht man Linien, wo keine sind? Beim Hohentwiel?! Die Klippen kommt doch keiner hoch, wo soll da einer eine Linie in die Fläche schneiden? Ich schabe und wische und stapel die Kreideschichten, eine einzige Katastrophe, eine Flächenkrise. Wenn man eine Flächenkrise hat, stellt sich das Gefühl ein, man hat das Zeichnen verlernt, völlig verlernt, alles.

Aber wir haben heute eine Entdeckung gemacht, die vermutlich einiges ändern wird: Die feinen Flächen von Romain Finke. Im Kunstmuseum läuft die Ausstellung \"SingenKunst2019 Stadt Berg Fluss\" von Künstlern aus der Bodenseegegend, aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Der Titel ist an das Kinderspiel \"Stadt Land Fluss\" angelehnt, wobei nun Berg der Hohentwiel, und Fluss die Aach ist (wie der Kunstverein verlautbart). Natürlich sollen Künstler auch so konkrete Themenvorgaben völlig frei deuten, und nicht wie wir: Wir dachten nämlich, die wunderschönen Papiere von Herrn Finke, immer strukturierte Farbflächen, zeigen Erdschichten, Elemente, Steinstrukturen, kein Zweifel. Die Flächen sind so inspirierend, ein Genuss wie an der Ostsee Steine zu sammeln, dass wir zwei Kataloge davon kaufen und jeden Abend darin blättern.

Doch wie wir den Text lesen, haben wir das gründlich missverstanden. Hier mal eine Klarstellung: Jedes gefärbte Papier steht nämlich für ein Opfer des 11. September. Die über 2700 Blätter sind ein stilles Gedenken an die Individualität jedes Menschen, abstrakte Porträts, ein Statement, dass die Einzigartigkeit eines jeden auch durch die Anschläge nicht ausgelöscht werden könne. Wir überlegen, ein ganz neuer Gedanke: Hat durch die Anschläge die Einzigartigkeit ausgelöscht werden sollen? Hat man am Ende deshalb die Trümmer sofort beseitigt und wollte nichts untersuchen, und hat das dritte Hochhaus, das ohne Anschlag eingestürzt ist, im internationalen Bericht verschwiegen? (dazu gute Vorträge von Gabriele Ganser) Alles ist pulverisiert, Gebäude wie Flugzeuge: alles Staub und sofort beseitigt, außer der Ausweis eines Attentäters, der fand sich mittendrin.

Herr Finkes Papierflächen, ein Mahnmal gegen Amerika? Doch so genau wird die Aussage nicht erklärt, Text und Künstler halten sich dann doch sehr bedeckt. Zuvor stellten derartige Flächen schonmal die Opfer von Dachau dar, als Darstellung des Undarstellbaren. Die Interpretation ist also ganz flexibel, und wir sind froh, dass es nun unter dem Titel \"Singen 2019\" dann doch sicher zulässig ist, die Papiere zu betrachten, wie zu Anfang: Als wunderschöne Flächen zum Meditieren, und - die ersten Linien hineinzudenken, den Hohentwiel?

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8. Juni, Von Dix bis Scheffel Man kommt aus Sachsen nach Singen, und nie vorbei an Otto Dix. In Gera (Thüringen) ist er geboren, in Singen gestorben. Wir sehen uns seine beiden Gemälde im Rathaus an.
Das zweite ist lustig, im Standesamt: Man sitzt als Brautpaar mit Blick auf Adam und Eva im frühlinghaften Paradies, hat rechts den Sommer, wo alles blüht und reift, und an der Wand hinter sich herbstliche Heuhaufen mit einem Grab und Sensenmann. Wie Braut und Bräutigam also aufs Paradies blicken, sieht der Standesbeamte immer den Sensenmann, Christoph sagt: der Beamte denkt schon, wie er dem Paar die Sterbeurkunde ausstellt.

Das Dix-Haus

Nachdem Dix von den Nazis als Professor entlassen worden war, saß er nicht mittellos herum wie all die arbeitslosen Künstler heute, sondern baute sich ein Haus mit traumhaftem Garten am Bodensee, auf einer Anhöhe, wie ein Fürst mit Blick über das weite blaue Wasser, und auf die Schweiz.
Genau dort fahren wir heute hin, ins Dix-Haus, nach Hemmenhofen. Seine Kinder sind hier aufgewachsen, und wir erfahren, dass sein Sohn Ursus später die Maltechnik von Wehlte ins Englische übersetzt hat!
Im Dix-Haus sitzt man wie im Märchen, ringsum Stille und Vögel, Sonne und Rosen. Wer hier wohnt, wäre doch so glücklich, dass er garnichts mehr tun würde, nur Rosen pflanzen. Das Dix-Haus ist etwas für den Lebensabend, ich würde garnicht mehr wissen, wozu ich malen sollte, und male den Ausblick, bevor es weiter geht: nach Gaienhofen, zum Hesse-Haus

Das Hesse-Haus

Dörflich, gebogene Hügelstraßen, versteckte Häuschen. Am Hesse-Haus laufe ich erstmal direkt vorbei. Christoph holt mich zurück, da stehen wir am Gartentürchen und lugen durch die hohen Hecken. Hier hängt ein Foto: eine Frau, sieht ganz stolz aus, dass sie das Hesse-Haus erworben hat, und einen Preis gewonnen für den Erhalt, aber das Gartentürchen ist - verschlossen, trotz Öffnungszeiten, es müsste auf sein. Man soll eine Nummer anrufen, und bitte die Privatsphäre achten. Wir sind irritiert, bei fremden Leuten am Kaffeetisch anrufen?
Seit Hermann Hesse stand das Haus mehrmals zum Verkauf, man kann garnicht glauben, dass es die Gemeinde nicht für die Öffentlichkeit erworben hat! Christoph reicht´s: Wissen die nicht, wer Hermann Hesse ist? und spurtet gekränkt bergab.

Joseph V. Scheffel

Den Abend sind wir in Radolfzell, das liegt auf dem Weg zurück nach Singen. Joseph Scheffel ist mit seinem \"Ekkehard\" ja so berühmt geworden, dass er sich am Bodensee sein Schlösschen gebaut hat, wie Dix, hier in Radolfzell, aber sie ist nirgends richtig ausgeschildert. \"Wahrscheinlich wissen die auch nicht, wer Scheffel ist!\".

Ich zeichne ein Weilchen unterhalb der Scheffelstraße am Wasser, bei untergehender Sonne den Hohentwiel von Weitem.
Christoph erzählt aus den Casus Sancti Galli:
Vom Hohentwiel herrschte um 973 die Herzogin Hadwig. Sie ist als Kind mit dem byzantinischen Thronfolger Konstantin verlobt worden, obwohl sie garnicht wollte. Ihr wurde ein Eunuch geschickt, der sie schonmal in Griechisch unterrichtete, und sie für den Ehemann \"möglichst änlich\" malen, also porträtieren sollte. Wie er Hadwig \"inspizierte\", verzog sie frech Gesicht und Augen, sodass der Byzantiner, als er das Bild sah, die Hochzeit kurzerhand absagte.
Ich denke an die hübsch stilisierten Linienzeichnungen aus der Zeit, es sind doch die Gesichter und Figuren selten unterscheidbar, die gleichen Augen, Nasen, Münder, wie dachten sie sich das Porträt? Damit Hadwig so abschreckend ist, etwa wirklich als Fratze?
Scheffel hat sich etwas einfallen lassen: Da schielt Hadwig nicht nur mit den Augen, sondern streckt auch noch die Zunge heraus, hält beide Hände mit gestreckten Fingern an die Nase, und sagt, das sei die \"reche\" (hübsche?) Stellung. Der Hofmaler wundert sich über den \"Mangel an Bildung in deutschen Landen\", und schwört, zeit seines Lebens kein deutsches Fräulein mehr malen zu wollen.

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9. Juni, Stein am Rhein Ist man erst einmal in Singen, möchte man gleich noch ein winziges bisschen weiter, nach nebenan, in die Schweiz, nach Stein am Rhein, nach \"Staa\", sagt der Schweizer. Man fährt mit dem Bus mirnichts dirnichts durch die Zollschranken, und versteht die Sprache nicht mehr - das Geschriebene ja, aber gesprochen wird es alemannisch. Und sieht auch alles etwas anders aus, der Baustil, die Landschaft. Italienischer? Man sagt ja, die Schweizer sind die Italiener unter den Deutschen, und so ist es auch, Temperament, alle durcheinander, einer ruft dem andern zu, es fehlen an den Brunnenquellen die Schilder \"Achtung! Kein Trinkwasser\", oder wie in Überlingen doch \"Trinkwasser\". Die Schweizer probieren einfach.

Ich zeichne die Brücke über den Rhein, der hier frisch aus dem Bodensee kommt. Es soll wohl nicht viele Brücken geben, und so war Stein immer von Bedeutung. Als die Schweden im Dreißigjährigen Krieg auf dem Weg nach Konstanz waren, kamen sie hier am anderen Ufer vorbei, und wo da schon eine Brücke war, nahmen sie Stein auch noch gleich mit.

Wir besuchen das Benediktinerkloster, fast eine Burg, die massiven Mauern, die vielen Räume zum Verlaufen. Einige Türen gehen mit Stufen direkt ins Wasser hinein, wie in Venedig, hier standen die Leute beim Verladen der Boote bis über den Bauch im Rhein.
Wir kommen in eine Scheune mit einem riesigen Gerät aus Balken - eine Weinpresse. Liest man irgendwo über die Weinherstellung der Mönche, denkt man oft an so kleine Quetschmaschinen und Eimerchen, aber das hier ist hoch wie ein Haus! Aus ganzen, dicken Stämmen, ein Stamm als Schraube geschnitzt, ich weiß nicht, wie man das bedient hat. Und die Weinfässer! Nicht so kleine wie bei Asterix und Obelix, zehnmal so groß! Ob das nicht eher Behausungen waren, also unser Bad würde in ein Fass hineinpassen. Man denkt bei der gesamten Anlage, das waren Titanen. Dabei müssen die Mönche eher klein gewesen sein, manche Klostertürchen sind ganz schmal und niedrig.
Mir fällt eine Darstellung ein, die wir mal gesehen hatten: wie sich die Körpergröße des Nutztieres entwickelt hat. In der Antike war das Rind recht groß, im Mittelalter ist es auf die Hälfte geschrumpft, später wieder gewachsen bis heute. Jedenfalls, aus der Zeit, als alle am kleinsten waren, stammt diese enorme Weinpresse!

Die Stadt ist beschaulich, verwinkelt, viele Häuser mit Malerei versehen, und bunten Fensterläden, aber es regnet den ganzen Tag in Strömen. Wir stellen uns immer unter, und sind trotzdem nass von der Luft. Das schlimmste ist: Christophs lateinischer \"Ekkehard\" wellt sich schon. Wir suchen ein Lokal, trotz schauriger Schweizer Preise. Der Deutsche in der Schweiz ist nach ein paar Tagen sämtliche Ersparnis eines Jahres los. Aber die Lokale sind voll, lauter regennasse Leute, Schweizer und Inder und Italiener, man bräuchte einen Lärmschutz. Die Zeichnung vom Blick aus dem Fenster aufs Rathaus misslingt ständig, das dritte Papier macht sich allmählich, als Christoph wieder hier raus will, trotz \"Ekkehard\".

Der Regen drängt uns zur Rückfahrt, wir kommen wieder unbeleckt durch den Zoll, ohne Ausweise. Meine Professorin Annette Schröter hatte doch mal erzählt, wie bei irgendeinem Zoll ihre Scherenschnitte ausgerollt wurden, so unfachkundig, dass sie zerrissen sind. Bei Zöllen muss ich immer an Scherenschnitte denken, und an Frau Schröter. Mir fällt ein: Zeichnungen sind auch empfindlich, die Kreide liegt auf dem Papier so zart wie Blütenstaub. Wenn da einer drauf fässt, ist ein Stück Erinnerung verwischt, Erinnerungen an Stein am Rhein.

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11. Juni, Hadwig auf dem Hohentwiel Nun wieder allein, sitze ich am Hohentwiel. Christoph hat so viel vom Ekkehard erzählt: der musste als Lehrer immer da hoch, um die Fürstin Hadwig zu unterrichten. Ab und an stieg sie hinab, es gab ja noch keine Zeitungen oder Fernsehen, regieren hieß, persönlich vor die Leute zu gehen, die Städte zu befahren, Gesetze zu verkünden, Gericht zu sprechen.

Irgendwie zieht es mich auch nach oben, zuerst nur zum Testen etwas näher ran, dann ein bisschen den Weg entlang, da geht es schon aufwärts, und wie es ganz überschaubar bleibt, stapfe ich durch den Weinberg, das ist der Anfang vom Hohentwiel.
Der Ausblick auf Singen ist schon jetzt beeindruckend, aber es sammeln sich die Wolken, wird gewittrig, ich setze mich erstmal für eine Zeichnung ins Gras, um noch zu überlegen, da kommen immer wieder Leute strahlend grüßend an mir vorbei. Stramme alte Damen mit Wanderstöcken, viele alleine, und junge Paare ganz ohne Ausrüstung, ohne Rucksäcke, ohne Proviant, als wäre der Gipfel der Bäcker um die Ecke. Nun, wenn das so ist...weiter geht´s.

Der Aufstieg ist so im Zickzack, dass man den ganzen Weg direkt unter sich im Blick hat, man sieht immer, wer alles nachkommt, und wer gerade erst am Anfang ist.

Steile, steinige Abhänge ohne Geländer, nur dünne Drähtchen zum Verhuddeln, falls man runterkippt. Im Wald, wo man versehentlich auf den \"Vulkanpfad\" gerät - \"Betreten auf eigene Gefahr\", wo man Baumwipfel neben sich hat von Bäumen aus einer Etage tiefer, sind nicht mal mehr Drähte, dafür aber etliche Bahnen den Abhang hinab in den feuchten Lehm hinein geschmiert, als wäre eine Oma da runter gerutscht, oder wollte ein Stuntman eine Abkürzung nehmen, hat das ganze Gras mitgenommen, ist irgendwo in der Mitte an einem Baum hängen geblieben, aber nicht auf den nächsten Weg gelangt, vielleicht wieder hochgeklettert? Hier soll ja die \"Schönschrecke\" leben. Wie mir gerade schwindelig wird, kommt ein Mädchen hinab gehüpft, lässig in kürzester Strandhose und Lätschlein über Wurzeln und Geröll, plappert in einem fort, der Freund solide vorneweg, als wäre hier ein Spaßbecken im Schwimmbad, sie gehen nur mal eben ein Eis holen.

Wenn das so ist, nehme ich doch die Hände wieder von der Erde, und laufe aufrecht weiter. Man kommt tatsächlich recht bald oben an, es ist nicht der Brocken im Harz. Wenn man gerade verzweifelt denkt, \"das kann ja was werden\", steht man plötzlich direkt an der ersten Mauer. Im Mittelalter wäre man schon mit Pfeilen bespickt, bevor man den Eingang auch nur suchen konnte. Wer Lust hat, könnte hier mehrmals täglich hoch und runter, nur erobern wäre schwierig, so am Abhang.

Oben ist ein kleiner Verkaufsstand mit Postkarten, Schlüsselanhängern, Eis und Kitsch. Sieht geschlossen aus, aber immer, wenn jemand herantritt, geht die Luke hoch, und eine Frau wartet mit Hand in der Hüfte, dass man was sagt. \"Hallo, ein Mandelsplitter-Schoko-Eis, bitte\", ohne Worte kommt das Eis, und schon wird die Luke wieder zugeklappt. Ein dickliches Pärchen kommt kurz nach mir. Kaum angelangt, meint es: \"Gut, und wieder runter.\", vielleicht ihr gewohnter Frühsport. Wie eine Mutter den Ausblick betrachtet, den Bodensee weit hinten, rennen die Kinder immer die Treppe hoch und runter, weil der Berg nicht gereicht hat.
Außer dieser Treppe in der Mauer und der unteren Bastion ist leider nichts mehr zugänglich, die Burgruine wegen Einsturz gesperrt. Man steht nur am Eingang und sieht die Ruine über sich wie zerfressene Zähne aufragen: welche Macht, welcher Geist dieser Herrscher, die bis ins 18. Jahrhunderte hinein die Burg immer weiter ausgebaut haben! Der Württembergische König Friedrich I. hat große Mengen vom Berg abbauen lassen wegen dem Halbedelstein Natrolith, womit er sein Schloss vertäfelt hat. Nun weiß ich also garnicht, wie Hadwigs Berg im 10. Jh. einmal aussah, und ihre Burg. Ekkehard gab ihr hier Einzelunterricht, worüber die anderen Mönche witzelten. Einmal brachte er einen Jungen mit hoch, der wollte von Hadwig griechisch lernen, Latein könne er schon. Sie gab ihm einen langen, großen Kuss und wollte ein lateinisches Gedicht hören. Er trug ein Gedicht vor, wie er, von ihrem Kuss gerührt, jetzt nicht mehr dichten könne.

Von dem, was jetzt noch steht, waren hier eine Bäckerei, eine Schmiede, ein Schul- und Pfarrhaus, eine Pferdemühle, eine Kirche, eine Apotheke, ein Friedhof, Zitadellen, Kaserne und eigentlich ein richtiges Dorf.
Nach einer Zeichnung nehme ich wieder den Abstieg, nun auf der anderen Seite, an schnöder Betonstraße, die hat, wenn auch ziemlich steil, nicht viel vom Hohentwiel, touristisch, Restaurant und Blumen. Alte Leute mit Sonnenbrillen, weißen Hosen und Blusen steigen aus den Bussen. Hier steht auch eine große Linde, unter der Joseph von Scheffel an seinem \"Ekkehard\" geschrieben haben soll. Damals doch wohl nicht zwischen hunderten von Leuten?

Etwas weiter wird es wieder besser, hier weiden Schafe, die hat man immer von ganz unten gesehen, und sich gewundert, wie die an den senkrechten Abhang kommen! Weiter hinten ist noch ein sehr merkwürdig geformter Berg, wie mag der heißen?

Nicht lang, gegen mittag, da kommt man auch schon wieder unten an. Wie warm und trocken die Stadt ist! Und wie kalt und nass der Berg! Unten belebt und bunt, oben karg und still. Und wenn ich jetzt nach oben sehe, weiß ich, da sind viele Wanderer, Schafe und Winzer, Naturforscher und Schönschrecken, ein Krempelladen, Vulkanpfade hinabhüpfende Strandtouristen, und spielende Kinder auf der Burgtreppe. Würde mein Aufenthalt hier jetzt beginnen, wüsste ich, wie alles zu zeichnen wäre. Doch es geht heute schon zurück, nach Kleinschönach.

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13. Juni, Pilgern auf der Reichenau Abt Walahfrid Strabo, 9. Jh.: \"Der Rheinstrom, von den östlichen Alpen in großem Bogen westwärts flutend, umspült diese Stätte mit dem Wellenschlag eines Meeres. Er trägt in der Mitte eine Insel (...welche von den Bewohnern Alemanniens AUGIA genannt wird...), die im Schmuck ihrer neuen Bauten prangt.\"
(zitiert aus den blauen Büchern)
Das ist die Insel Reichenau.

Es gibt da ein Gemälde, wie der heilige Pirmin mit dem Boot von Allensbach bei Konstanz auf die Insel kommt. Kaum dass der Abt den Segensgruß macht, springen alle Schlangen und Frösche auf der anderen Inselseite panisch ins Wasser und wuseln davon. Seither gab es keine so bösen Tiere mehr auf der Reichenau.
Aber heute sieht man das lockerer, man hat in den 1830ern einen Damm gebaut, und fährt nun wenige Kilometer weit direkt auf die Insel, vorbei an Schilf über Schilf, Naturschutzgebiet, Schmetterlingen, schweren Käfern, Geraschel und Gezwitscher, kreisenden Adlern und tausenden quakenden - Fröschen! Herr Pirmin wird sich im Grabe herumdrehen.

Ich fahre mit dem Fahrrad das Inselchen ab, beschauliche Gassen, Rosen, Bäume und Schilf, gerate immer in einen Strudel von anderen Fahrradgruppen. Sogar, wenn man sich im Weg geirrt hat und zwischen irgendwelches Gesträuch gerät, schlingert irgendeine Gruppe hinterher, steckt fest, und man ist Schuld.
Leute werden von Bussen ausgeschüttet, direkt in die Mitte gefahren, mit Wanderstöcken gerüstet, denn man pilgert hier traumhaft von einer Kirche zur anderen, am Ufer entlang, nascht Eis und Torte, liegt unter Sonnenschirmen, geht baden.

Um 800 kam Abt Waldo, Vertrauter Karls des Großen, und Reichenau wurde karolingisch. Karl ließ sogar Gefangene hier unterbringen, auch den Sachsenherzog Widukind. Die Sachsen sind aber auch überall! Es gibt noch ein paar Dinge aus der Zeit, z.B. Bruchstücke von Chorschranken mit karolingischen Ornamenten. Die \"neuen Bauten\", die Strabo im 9. Jh. erwähnt, sind unter den folgenden Äbten immer noch verändert worden. Besonders große Teile aus der Romanik, dem 10. und 11. Jh. sind erhalten, die schönen klaren Gurtbögen, die runden Apsiden und feinen Malereien, die schlanken Figuren in edlen Gewändern, vornehmen Gebärden und freundlichen Augen, in St. Georg aus ottonischer Zeit. Mönch müsste man sein, die schönen Linien zeichnen, die Codices!

Noch nie in der Geschichte haben so viele Menschen die Chorgemälde gesehen wie heute, einfaches Volk durfte nur in den vorderen Raum bis an die Chorschranken. Heute strömen Touristen bis an die Altäre, sehen den Kirchenschatz, die allerheiligsten Räume, so auch ich.

Die Frommen machen´s kurz, sie knicksen und kreuzigen sich, bevor sie schon zur nächsten Kirche spurten, um in Reichenau alles zu erledigen. Im Münster geht die Tür auf, und eine Pilgergruppe plauzt singend in die Stille \"Nun-dan-ket-al-le-Goooott\", damit es Gott da oben auch hört, aus voller Kehle, Fünfe durcheinander wie am Stammtisch nach reichlich Bier, mit Wanderstöcken, wandert eine Runde zum Altar, \"mit-Her-zen-Mund-und-Häään-den\". Nicht lang, dass sie wieder raus marschieren, und wie ich später im St. Peter und Paul sitze, geht wieder die Tür auf: \"Nun-dan-ket-al-le-Goooott\".

Einmal sitzen zwei Frauen ganz still und beten, niemand bemerkt sie, bis plötzlich ein Gesang von ihnen losgeht, dass alles erschrickt. In zwei Melodien, lange Töne, versetzt, latein, aber sowas von schräg! \"Ey Sapperment!\", denkt Schelmuffsky aus Leipzig, und ist drauf und dran, die Flucht zu ergreifen.

Ob die Mönche auch so gesungen haben? Haben sie nicht auch beim Malen gesungen? Dann wäre ich lieber doch kein Mönch. Den Abt Witigowo haben sie ja damals abgesetzt, weil der ihnen zu viel Geld für Wandmalerei und Architektur ausgegeben hat. Sparen an Kunst? Na, so ein Mönch wäre ich schon garnicht.

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16. Juni, Spinnen in Konstanz Zum zweitenmal in Konstanz, heute zum Zeichnen, zeigt sich der Hafen wie von Claude Lorrain gemalt. Eine Säule mit Ikarus zu Ehren des Grafen Zeppelin ragt in den Himmel, Zeppelins Haus steht wenige hundert Meter weiter. Bei stillem Wetter fliegen die Luftschiffe über dem Bodensee, wie Wale im Ozean

Heute gehe ich nur ins Münster, wo fünf Stunden einfach so, im Handumdrehen verfließen!
Da ist das Chorgestühl, ganz aus Holz geschnitzt, das man nicht aufhören kann, zu betrachten, weil die Türme so extrem grazil, als wären´s gewachsene Ranken mit feinsten Ästchen, wie geschriebene Linien, kalligrafisch in die Höhe ragen, und wie man´s nicht ganz fassen kann, ist eine Stunde um.

In den Seitenschiffgewölben um die Schlusssteine hängen überall Spinnenweben, solche langen, dicken Fäden, achthundert Jahre alte Spinnen. Ich gehe da lieber nicht mehr hinein. Christoph sagt, das ist, weil hier die Spinne verehrt wird. Es ist nämlich zur Zeit Hadwigs dem Bischof von Konstanz eine Spinne in den Messbecher gefallen, und weil kein Tröpfchen vom Blut Christi abhanden kommen darf, war´s nicht möglich, die Spinne zu entfernen, die hat er mitgetrunken! Seitdem verehrt man sie, wie eine Freud´sche Verneinung: ist doch nichts dabei. Oder wie eine \"Flucht nach vorn\" nach einem Trauma (vgl. Christoph Türcke).

Eine Zeichnung, die aber garnicht gelingen will, wage ich in der romanischen Krypta, vor den romanischen Schilden. Noch nie solche Schilde gesehen! Da blicken die lebensgroß gemalten, goldenen, feinen Gestalten so vornehm und klug in ihren schönen Linien. Gebräunte Beine in Badelatschen schlappen daran vorbei, Fotoaparate klacken, Wanderer arbeiten sich mit Stöcken durch, ich in extrem pinker Regenjacke schabe mit der Kreide auf dem Papier herum, und ganz merkwürdig: strecken sich Kinder auf dem Altar aus!

Die Mauritius-Rotunde hätte ich gerne noch gezeichnet, mit allerschönsten Figuren, vor allem im innern, ebenso elegante wie Uta von Naumburg! Mal sehen, wann die Rotunde umbenannt wird: Denn Apotheken, die zu Ehren des Mauritius, dem ersten Apotheker, nach ihm benannt sind, \"Mohrenapotheken\", sind neuerdings auf amtliche Weisung schon umbenannt worden - weil er ein Schwarzer ist, und das sei rassistisch. Ich wette, würden sie Maximianus-Apotheken heißen, würde den Hohn garkeiner bemerken, das wäre vielleicht in Ordnung.

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18. Juni, In der Ödnis Da kommen fremde Leute in die Gegend von Bregenz wie Vandalen, zerstören hier die einheimischen Götterstatuen und werfen sie in den Bodensee! - um 611 der Abt Columban aus Irland mit seinem Gefolge, darunter Gallus. Und fangen an, ein Kloster zu bauen! Nicht ungewöhnlich, dass sie von den Einwohnern vertrieben, zwei sogar ermordert werden. Aber verloren haben sie dennoch nicht, im Gegenteil, die Geschichte schreibt nämlich nicht an den Einheimischen weiter, sondern folgt den Attentätern als Helden:

Als sie, vertrieben, weiter ziehen, wird Gallus fieberkrank und muss zurück bleiben, wird deshalb von seinem Lehrer aus der Gemeinde ausgeschlossen wegen Ungehorsam, lässt sich von einem Priester gesund pflegen, und zieht mit dem Diakon Hiltibod in eine andere Richtung, in den Urwald hinein, alles war dort Urwald.

Wer durch die Wälder wandert, bekommt eine Ahnung, was es damals hieß: denkt er sich jetzt Wege und Straßen weg, die nächsten Orte alle weg, hat kein Navi und kein Ziel, den Nebeldunst, die abendlichen Gewitter, strömenden Regen, da heißt \"stolpern\" etwas anderes, nicht nur, dass der Tourist mit dem Turnschuh kurz hängen bleibt. Gallus ist jedenfalls gestolpert, in einen Dornbusch hinein, nahm es als Gottes Zeichen und wollte hier sterben, und tat es dann auch.

Es muss wohl dem Begleiter zu verdanken sein, dass das bekannt wurde, und danach Pilger zur Ehren des heiligen Gallus hierher strömten, ein Kloster errichtet und immer weiter ausgebaut wurde, die Pilger viel Geld ließen, bis es einem Schloss gleich wurde. St. Gallen ist schnell gewachsen, heute hat es Döner, H und M, Restaurants, Parkhäuser, Stahl-Glas, breite Autostraßen. Im Tal gelegen, sieht man zwar Berge mit Wald ringsum, aber wird nicht groß von ihnen beeindruckt, man bemerkt kaum, dass sie da sind.

Heute strömt und pilgert alles ins Kloster, Japaner, Italiener, Schweizer, und drängt sich um ein Pergament wie um eine Reliquie: um den St. Gallener Klosterplan aus dem 9. Jh. Abt Gonzbert hat ja ein Kloster abgerissen, weil er ein neues wollte, und für das Neue wurde der Plan gezeichnet.

Die heutigen Kultstätten sind Museen: Man kommt dort an einen verschlossenen Raum mit digitaler Anzeige über der Tür, einen Countdown in Sekunden, wann die nächste Präsentation beginnt, man setzt sich in diesen schwarzen Dunkelraum, betrachtet den Altar-artigen Vitrinenkasten aus Gipspappteilen mit weißem Modell-Kloster, wird von allen Seiten beatmet und rückt mehrmals ab, weil ein Hintern kommt, der auch dort sitzen will. Dann schließt die Dunkelkammertür, und ein Digital-Animationsvideo erklärt uns kindgerecht den Plan. Als die Ersten wegzudämmern beginnen, heißt es irgendwann, treten Sie nun an die Vitrine, sie wird für 20 Sekunden geöffnet, und Sie sehen den originalen Klosterplan. Alle springen zu diesem Vitrinenaltar und starren hinein, da schwebt, digital gesteuert, der Deckel samt Modell-Kloster in die Höhe. Darin liegt, im Kasten aufbewahrt, ein sehr knuddeliges, stark gewölbtes Schriftstück mit den rötlichen Linien. Der Raum ist dunkel, der Plan wenig beleuchtet, zum Schutz, und doch sieht man ihn strahlen, die Augen alle glühen, Gemurmel, \"aaaah\", eine Offenbarung. Aber kaum hat die Stimme gesagt, wir sollen herantreten, heißt es, fast ohne Pause dazwischen, wir sollen wieder wegtreten. Irritierte Blicke, erschrockenes Zurückzucken, man hat kein einziges Gebäude erkannt, da schwebt der Deckel auch schon runter, wie schmerzhaft, Entzugserscheinung, Depression, die Dunkelkammer öffnet die Tür und macht Licht, alles rennt raus, als wäre mit dem Deckel das Tor zum Himmel zugefallen.

Ich muss sagen: Man hat eigentlich nichts gesehen. Es könnte dort auch eine Plastik-Replik gelegen haben, oder eine zerknüllte und wieder ausgebreitete Papiermatte. Es geht nicht um den Plan, sondern um die Enthüllung, um diesen religiösen Moment. Wir glauben dem Museum und der Wissenschaft, dass sie uns gerade den ältesten Klosterplan enthüllt hat, und werden das nun überall verkünden: dass wir diesen Klosterplan gesehen haben. Natürlich, ohne Zweifel war er echt!

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20. Juni, Zum Zehnten, ein Brunnen von Claudia Schlürmann Nebenan von Kleinschönach, in Herdwangen, fließt ein Brunnen vor dem Rathaus, der mir sehr gefällt, aus monolithischen Brocken zusammengesetzt. Dunkle, schwere Steine, aus denen eine Quelle fließ. Die Brocken sind behauen und symmetrisch aufeinander gelegt, ähnlich wie ein Thron (mit Sitzfläche und Lehnen). Die Quelle thront, sie drängt aus dem obersten Hauptstein von unten her hoch und sammelt sich still in seinem eingemeißelten Becken, allerlei Vögel kommen und gehen, trinken und baden darin.

Von dort läuft das Wasser über, durch die flache Rinne, hinunter auf die Sitzfläche, weiter auf die Erde, bildet ein zartes Bächlein in schmaler Vertiefung, das geradewegs über den Platz führt. In der Mitte verschwindet es kurz im Boden, unter einer kleinen, ringförmigen Hecke, wie in einem Miniaturwald, und taucht dahinter wieder auf.

Kinder steigen barfuß in das Bächlein und folgen seinem Pfad hinab. \"Da ist ja was im Wasser!\", ruft eine Kleine. Bronzene Figürchen schimmern unter den feinen Wasserkräuseln hervor, Äpfel? Früchte, eine Ähre von Getreide, Fußabdrücke von einem Huftier? Als seien hier welche entlang gezogen und hätten Dinge auf ihrem Weg verloren. Der Bach verschwindet ein zweitesmal im Boden, nun endgültig, aber man denkt ihn sich weiter, immer geradeaus.

Die Bedeutung erklärt uns ein kleines Relief im Boden hinter dem Steinthron: Bauern ziehen mit schwer bepackten Eseln in eine Richtung, da steht zu lesen, dass sie den Zehnten abliefern, von Herwangen nach Konstanz! Ich sehe aufs Navi, tatsächlich, der Fluss weist ganz genau nach Süden, von Herdwangen nach Konstanz. Auch das Rathaus hält sein Gesicht also direkt nach Konstanz. Das ist ein weiter Weg!

Heute zahlt man wesentlich mehr an Steuern. Glücklich, wer nur ein Zehntel beizutragen braucht, aber das fliegt unsichtbar von einem Konto auf das andere. Damals hatte man alles in der Scheune, die ganze Ernte, machte sich auf weite Reise über Stock und Stein, durch Wald und Hügel, Wetter und glühende Sonne, hoffte, dass die Nahrung nicht verdarb, die Säcke nicht rissen, sich niemand ein Bein brach. Als Räuber hätte ich am Weg gelauert, wenn der Zehnte fällig war! War da nicht auch Mord und Totschlag? Und Haus und Hof schlechter bewacht? Und wenn der Zehnte nicht in Konstanz ankam, musste ein Bauer dann nochmal los? Mit nochmal einem Zehnten?

Als ich am ersten Tag von Herdwangen nach Kleinschönach in die Kunsthalle kam, was sah ich da? Stehen doch solche Steine wie vom Brunnen, so ähnlich rohe, mit glatten Rinnen bemeißelt, vor der Kunsthalle, unverkennbar, und glitzern in der Sonne, hier also trifft man die Künstlerin, die übrigens in der Jury für mein Stipendium war. Herzlichen Dank, dass sie mich mit ausgewählt hat: Claudia Schlürmann.

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21. Juni, Abschluss, Im Flug Der letzte Tag ist wie auf Flügeln, der Hermesbote hat all mein Gepäck schon abgeholt, mein ganzer Besitz sind nur noch ein paar letzte Blätter zum Zeichnen, drei Stifte, und die Skizzen.

Zum Abschied eine Skizze von meinem Atelier. Atelier ist untertrieben, eine Halle für Monumente. Ich habe sie mehr zum Atmen genutzt - eine Halle voll Luft - geeignet, um die Asen der Edda in Stein zu meißeln oder den Koloss von Rhodos. Der Künstler selbst zieht sich bescheiden zurück, in einen höhligen Bretterverschlag (in der zweiten Zeichnung hinter der linken Wand), in dieser Abstellkammer, eine Leiter hoch, oben mit Matratzen, asketisch und still wie in einer Kapsel irgendwo im Luftraum. Seine Klamotten ordnet er einfach unten zwischen das Gerümpel. Der dauerhaft vom Lärm zitternde Großstädter erfährt hier erstmals, wie tief und erholsam Schlaf sein kann! Wer hier schläft, lebt sicher zehn Jahre länger als gewöhnlich. Die anderen Künstler fragen immer besorgt nach meinem Befinden, denn mancher Gast hat sich gegruselt. Das kann ich eigentlich nicht behaupten.

Gestern haben sich alle in meinem Atelier vor den Skizzen versammelt. Ich selbst bin das erstemal Betrachter, sehe nun alles von oben wie eine Landschaft vom Zeppelin aus. Fliegen ist herrlich! Sieht zwar im Einzelnen etwas klein aus, aber zu Hause wartet ja ein Landeplatz, ein kleines Großstadtzimmerchen, dort gehe ich ins Detail, und wird jede Skizze, die geeignet ist, bearbeitet oder als Holzschnitt umgesetzt, worauf ich mich schon sehr freue. Die Ergebnisse erscheinen demnächst auf dieser Webseite und finden vielleicht Eingang in eine Ausstellung.

Vielen herzlichen Dank an die Künstler der Kunsthalle Kleinschönach für die unvergesslichen Erfahrungen in einer unsagbar schönen Landschaft voller Geschichte und Inspiration. Vielen Dank an die Jury, die meine Bewerbung ausgewählt und mir den Aufenthalt ermöglicht!

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