Husten (bin hoch erkältet von vor Tagen: Kühlschrank-Zug-Klima-Anlage). Der Zug mit Halt in Frankfurt/Main Hbf., den wir laut Fahrkarte nehmen müssen, existiert nicht, heißt, wir sitzen im korrekten vorgeschriebenen Zug, und stellen fest: Die Haltestelle unserer Fahrkarte wird still und heimlich nicht angefahren. Wie aus einem Traum wird einer erwachen, der so weit fährt, von Leipzig bis Frankfurt, getreu des Fahrplans, und noch alles weitere, Anschlüsse, vor sich hat, und nicht zufällig rechtzeitig auf die klammheimliche bahninterne Änderung gestoßen ist, nämlich dass er schon Stunden vorher in Erfurt hätte umsteigen müssen, um nach Frankfurt Hbf zu kommen!
Christophs Kurzfassung:
Zug gebucht ICE 71 Leipzig, 6.48h - Frankf./Hbf. 9.52 - fährt aber, ohne besondere Ankündigung, nur nach Frankf./Süd - „wegen Bauarbeiten“, auf Nachfrage, die Schaffnerin, uninteressiert mit Kaffeebechern als Servicedame Richtung 1. Klasse - also Umstieg Erfurt in ICE 931, der 20 min. später als ICE 71, nach - Frankf./Hbf. fährt, wenn er denn, nun verspätet auf Gleis 1, nach Zugteilung, abfährt.
Erfurt. Warten. Arbeiter fährt lärmiges Putz-wisch-auto durch die Halle, um uns herum, im Kreis, hin, her, wir fliehen kurz raus ins Freie. Nächster Arbeiter fährt Schrubb-besen-auto die Bordsteinkanten ab. Zugverspätung, wir ergattern gute Plätze, für die nun unsere Reservierung, wegen von der Bahn heimlich geänderten Zugs, nicht gilt. 8 Uhr erste Gelegenheit, sich mit etwas anderm zu beschäftigen, als mit Reiseplänen.
Von Erfurt nach Frankfurt wieder Kühlschrank-Zug 3 Stunden lang. Von Frankfurt nach Brüssel Klima-Anlage defekt, Hitzezug, „Vom Regen in die Traufe“, sagt Christoph, und während wir sitzen, samt Gepäck so eingerichtet, plötzlicher Verweis aller Gäste, sich in andere (völlig überfüllte) Waggons verstreuen zu müssen, weil das Klima hier in diesem Waggon nicht „zumut- und aushaltbar“ sei, unter der Bedingung dürfe die Bahn keine Menschen transportieren. Ganzer Waggon strömt mit Koffern in die Gänge, Christoph und ich schaffen nicht, erst in entgegengesetzte Richtung gegen den Strom unser Gepäck aus der Gepäckecke zu holen: Waggon verlassen und Gepäck auf gut Glück verabschieden. Stehen 2 Wagen weiter, zu vielen Schulter an Schulter, viel schlimmer und hitzigerer als wir im „unzumutbaren“ Waggon haben sitzen können. Offenbar ist der Bahn erlaubt, Menschen noch schlechter als verboten zu transportieren. Ich weiß nicht, wieviele Stunden so. Wer aufs Klo muss: Kein Durchkommen. Irgendwann Haltestelle, zum Glück müssen wir nicht aussteigen, weil vollkommen unmöglich, zu unserem Gepäck zwei Waggons weiter, um es zu holen, und sich mit Gepäck ja noch sperriger wieder zurück zu einer Ausgangstür zu bewegen. Kann sein, dass etliche Leute nicht aussteigen, weil es schlicht nicht möglich ist.
Erst nach einigen Haltestellen lässt uns der Leutestrom wieder Zugang zu unserem Gepäck, zum „unzumutbaren“ Waggon: mittlerweile mit roten Warn-Verbot-Plastik-bändern abgesperrte Sitzreihen und einige Leute, die sich hinter die Sperrbänder gesetzt haben - wo wir nicht mehr haben sitzen dürfen, sitzen jetzt andere! - So freundlich, unser Gepäck nicht zu beachten. Wir setzen uns auch in die verboten Reihen.
Brüssel - Antwerpen halbe Stunde unauffällige normal zumutbare Fahrt, Ankunft, erschöpft.
Muss später über den imposanten Weltstadt-Bahnhof schreiben, über Diamantengeschäfte vor der Tür, über Diamantengeschäfte und Diamantengeschäfte. Wir haben ein Stückchen zu Fuß, nach Berchem, Jugendstilhäuserzeilen … Hier wohnen wir, in vornehmster Gegend, in der Cogels Osylei 7.
Müde und krank aller freundlichster Empfang und Vorstellung (fit sein) im Haus Veerle Rooms‘, Kaffee, Führung durchs Haus, Etagen und Räume, Treppen, Etagen, noch mehr Räume, obwohl so klein und schmal von außen. Besuch und Begrüßung durch Sarah Daeleman (Malerin), Abendessen alle gemeinsam, festlich, belgisch, Muscheln, kleine Wasserwürmchen, Lachs, weißer glatter Fisch, noch ein anderer Fisch, um Spargel gewickelt, als Salat in Tomaten, als bunte Häppchen. Ich am Husten und Husten und Husten und Hoffen, dass es bald besser wird. Fehlt nicht viel, dass Reisen wieder so gefährlich wird wie zu Luthers Zeiten.
Nacht mit allen möglichen Hustenlinderungsunternehmungen. Morgens verlorene Stimme, weg, flüstere. Frühstück, Veerle und ihr Mann Willem Peerson (Journalist), haben uns gut versorgt, viele verschiedene Käsesorten, sehr gute, im Kühlschrank, Tomaten, Trauben, Tee, Kaffee, Eier, uns gestern viel leckeres Brot mit gegeben. Und ich entdecke - Hustensaft! Sehr dankbar, weil haben gestern nichts mehr besorgen können, heut Feiertag, Mariae Himmelfahrt. Auf dem Frühstückstisch steht auch ein Glas Radiernadeln, weil der Künstler normalerweise beim Essen nebenher Bilder macht. Fühle mich wie zu Hause.
Halb 10 bis 11 obere Etage, ja wir haben mehrere Etagen für uns, oben ein „Künstlerstudio“, Sessel blickt aus großer ebenerdiger Fensterfront, falls man im 4. Geschoss, Dachgeschoss, ebenerdig sagen kann - dachgeschoss-erdige Fenster, Blick auf antwerpische Häuserdächer und Hinterbauten und Anschachtelungen und Schacht-Ecken und Schornsteine, der Antwerpener hat tendenziell schmale Häuser, aber mehr Geld gehabt als Grundstücksfläche bekommen können, und es in die schlanke Höhe investiert. Mir fällt auf, dass ich eher gewohnt bin, eine Wohnung horizontal zu denken, man fährt zwar Fahrstuhl oder steigt Treppen in beliebige Etagen, aber an einer Tür angekommen, verbleibt man wohnlich auf dieser erreichten Höhe, man wohnt eher waagerecht, also Nachbarn in waagerechten Flächen übereinander geschichtet. Etwas ungewohnt nun, dass der Antwerpener eher hochkant, und verschiedene Parteien stäbchenmäßig nebeneinander aufgestellt sind.
Kurze Skizze, wie Willem unten im Garten ein Buch liest.
Elf Uhr führt mich Veerle Rooms ausführlicher durch die Werkstatträume. Der Husten und die abhanden gekommene Stimme sind mir so peinlich, dass ich mit FFP2 auftauche, ohne dran zu glauben, fühl mich noch genauso ansteckend. Veerle zeigt mir eine Sammlung Grafiken, sie arbeitet viel in „Chine-collé“ (mir unbekannt), wo bedruckte Schichten hauchdünnen China-Papiers übereinander geleimt sind, wofür man 2 Jahre mindestens Erfahrung brauche. Und vielfältigste Kaltnadeltechnik-Radierungen. Sie bekommt mich überredet, von meinem Vorhaben, zu ätzen, abzubringen, es hätten alle Gäste immer gesagt: „No acid, please! Nothing toxic!“ Nu komm ich und sag, ich will mit Säure. Höchstens im Garten, aber eigentlich kommt jeder ohne Säure aus. Was sie mir dann zeigt, Experimentelles, keine traditionelle Druckgrafik, wie ich sie immer gelernt hab, ist durchaus sehr verlockend. Wie hat Christoph gestern gesagt: „Do not make old things when you come to a new place.“ ChatGPT schlägt eine elegante Formulierung vor: „Avoid sticking to old routines when you're in a new environment.“ Nein erst hat Christoph das Gegenteil gesagt, damit ich nicht dumm da stehe: Das machen, was ich gut kann vor allen Leuten. Aber das könnt ich ja zu Hause. Nur wenn ich die große Ehre hab, bei einer der bedeutendsten Grafikerinnen Belgiens, so steht‘s zu lesen, als Artist-in-residence zu Gast sein zu dürfen, möcht ich die Gelegenheit nicht versäumen, so viel wie möglich davon zu profitieren, statt herum zu glänzen.
Freudig kehre ich mit unerwartet einfachsten Druckträgern aus der Werkstatt zurück, eine Pappe, ein Linoleum, verschiedene Plastikscheiben. Christoph und ich pendeln also durch die Stadt und ich skizziere nach meiner Art Ort und Menschen auf die Druckträger. Nachher Linien mit Cutter in die Pappe! Und dünne Schichten aus der Oberfläche heraus schälen, und Lithosand auf Flächen leimen, so der Plan. Morgen erster Probedruck Tiefdruck.
Mittags. Erstmal Spazieren durch prachtvollste Jugendstilstraßen, hier wo wir wohnen phantastischste Privatvillaburgen, wer hat die verwunschensten Ranken oder glitzerndsten Art-Deco-Punkte in Gold, runde Fenster, Mosaike, Schnitzereien. „Was kann man künstlerisch damit machen“, überlegt Christoph immer für mich, weil kann man kaum unkünstlerisch einfach dran vorbei ziehen.
In einem Heftchen lesen wir, dass man in den 60ern hat alles abreißen wollen. Und dass von innen alles normal aussieht, nur die Fassaden so prächtig. Der Reiche hat sich Elemente wie im Katalog bestellt und sozusagen ankleben lassen.
Nachmittags: Experimentelles Kaltnadelradieren in Karton nach einer verhusteten Nacht mit Bauchmuskelkater und verklebten Augen in einer fremden Weltstadt - was zähe Sache. Genau genommen, die Vorzeichnung. Ich muss immer an Stendal denken, wo ich, „artist-in-residence“, anfing, Kaffee zu trinken, Wendepunkt im Leben, seit dem trink ich Kaffee. Heut Nachmittag aus Erschöpfung soweit zu alten Gewohnheiten, dass ich das Experimentelle schleifen lasse. Statt dessen Aquarell. Christoph forscht an Lipsius‘ Politica, diesem brillanten Philologen aus Löwen, brillanter als Cicero!
Wir durchstreifen die vielen Gassen, Touristenfänger-Restaurants mit Muscheln und Hummern, staunen vor der fragilen Fassade der Liebfrauenkathedrale, wie Stein durchsichtig gemacht, man kann zwischen den feinen Streb-Elementen zum Himmel durchgucken. Rathaus und Reihen von Stufengiebelhäusern, rote Backsteine.
Abends zu Hause: Was soll Veerle denn morgen mit mir drucken??
Weckruf durch Hustenanfall. Dampfbad. Teekur. Frühstück.
Ob ich’s - dabei so früh aufgestanden - vor elf noch schaffe, eine druckfähige Platte hinzubekommen? Heut zum Drucken verabredet. Veerle Rooms hatte mir gestern mitgegeben: Plastik, Linoleum und Pappe, wovon ich letzteres am interessanten fand und mein erstes Bild darauf gemacht habe: Denn wie um aller Welt kann man Pappe mit schwarzer Ölfarbe einfärben und zum drucken wieder blank wischen? Und Flächen, die nachher dunkler gedruckt werden sollen (entspricht in Aquatinta dem Rauh-ätzen), werden von der Pappenoberfläche abgeschält.
Christoph und ich sitzen oben im Dach-Studio mit Ausblick, Christoph weiter mit Lipsius, ich verarbeite eine Zeichnung von gestern (Dageraads-Plaats, Morgendämmerungsplatz, an der St.Norbertus-Kirche: Cafés und Restaurants, Spielplatz), schneide die Kinder vom Spielplatz gestern in die Pappe, wie sie über ein wackelbares Board hängen, worin eine Kugel durch ein Labyrinth geschuckelt werden soll, und drei Kinder schuckeln gleichzeitig dran. Dahinter eine Mutter, die mit Handy ihr Kind beim Klettern filmt, sodass ziemlich dokumentarisch wohl jede Körperhaltung verewigt ist. Rechts in der Zeichnung eine jüdische Mutter mit ihrem kleinen Sohn. In Deutschland - ich weiß nicht, ist uns irgendwo je dort ein erkennbar als solcher gekleideter Jude begegnet? In Antwerpen, seit wir aus dem Bahnhof gekommen sind, ständig. Paar Straßen weiter das Judenviertel: Männer in schwarzen Mänteln, Zylinder, Bart, Kippa (Käppchen auf dem Kopf), gedrehte lange Locken vor den Ohren, die Jungs, die ganz kleinen schon, gedrehte lange Löckchen vor den Ohren und Kippa auf Spielplätzen - wie machen sie‘s, dass das Käppchen beim Spielen gar nicht runter fällt? - Frauen sind in sehr ordentlichen Kleidern, haben die schwarzen Haare zu schönen strengen Frisuren und „altmodische“ strenge Schuhe.
Halb 12 Pappe fertig, ob Veerle schon denkt, wo ich bleib? In die Werkstatt runter, (vom Straßeneingang betrachtet Keller, vom Garten aus ebenerdig). Veerle hat gesagt, man malt Litho-Schleifsand mit Leim gemischt auf die Pappe und erhält damit im Druck nachher wolkig dunklere Flächen (vielleicht entsprechend klassischer Radierung, wo man Asphalt streut). Die Sand-Leim-Mischungen, die sie mir gestern bereit gestellt hat, sind noch von Sheena Valely (Irland), eine weitere Bekannte aus meinem früheren Schwedt-Stipendium. Sie hat 2021 über Sarah Daeleman hierher gefunden, wie ich jetzt. Sheena ist damals mit Corona hier angekommen, verbrachte gleich 2 Wochen in Quarantäne, eine Woche davon hier im Haus, und doll krank. Dann 2 Wochen auf Hochtouren geschuftet, um dem Stipendium gerecht zu werden. Ich male paar Tupfer mit Sheenas Sandleim. Fertig.
Veerle im Haus suchen. Veerle und ihr Mann kommen vom Einkauf und freuen sich, dass die Werkstatt belebt ist. Auf zum Probedruck! Nanu,… , Veerle Rooms guckt bisschen mitleidig, ach, sie habe vergessen zu sagen, dass doch vorher eine Schicht Holzleim auf die Pappe muss! Schneiderei und Sandleimerei also erstmal umsonst, muss überkleistert werden. „Ach wo, does not matter! No Problem!“, sage ich und freu mich ob der Erkenntnis: Ja, eine glatt und fest geleimte Oberfläche kann natürlich wie eine Radierung nach der Einfärbung hell ausgewischt werden! Die nächsten Stunden emsiges Einkleistern, 2 mal jede Seite. In den Trockenphasen ist hier eine Ecke zum Kaffe machen und Kekse essen, und Radio und Garten sitzen, zum Zuhausefühlen, nur mit mehr Möglichkeiten.
Christoph kommt mit Laptops auch in Garten runter, Brunnen plätschert. Nachts ist Christoph durch unsere Etagen Ecken absuchen, woher es so plätschert, ob wir da bloß alles zugedreht haben, in all den Künstlerstudiowerkstattnischen und Schläuchen und Hähnen und Brausen und Becken, weiß man nicht, ob man versehentlich, wo man zwar gar nicht dran war, …, aber jetzt zu Gast, die Verantwortung, … Vom Garten führt ein Treppchen zu Veerle Rooms‘ Wohnstube, wo sie und ihr Mann direkt am großen Fenster sitzen. Ihr großer schwarzer Hund bellt von dem Treppchen herunter, ein Riesenhund wie im Märchenfilm „Das Feuerzeug“, der die Goldtruhe, oder Silber oder Kupfer bewacht, aber ist sehr alt und kann die Stufen nicht mehr so runter. Willem kommt aus der Stube: „Ruhig, das ist doch Christoph!“, erklärt er dem Hund. Die beiden Herren, unter sich als Autoren und Sprachler, jetzt im plätschernden Brunnengarten lebhaft sich austauschend, während ich in den Kellerräumen kleistere und spüle. Christoph hat Sprüche aus der besagten Norbertkirche in seine Latein-Webseite eingearbeitet: Chor, Marien-Altar, Christus-Altar, Orgelempore, Mittelschiff, überall Inschriften gesammelt: Laudate Dominum omnes gentes | laudate eum, omnes populi! […] Jüdische Verse. Erst in später Zeit wurden einige Zeilen über Christus eingeschoben. Willem hat erzählt, dass die Kirche keinen Priester mehr hat, heißt, keine Gottesdienste. Dafür viele jüdische Familien auf dem Spielplatz, meint Christoph, so ist der Kreis gewissermaßen wieder geschlossen: ursprünglich jüdische Verse, wo sich die Christen hinein gedrängt haben, in einer ursprünglich christlichen Kirche, nun ohne Priester, vor der jetzt Juden spielen.
Nachmittag: Veerle ist neugierig auf einen Holzstich, den ich mitgebracht habe. Ich hatte, falls auch Holzstiche gedruckt werden können, zwei Stückchen zum Besticheln mitgebracht. Auf einer Seite noch ein Bild, das ich in Urzeiten gemacht habe, heißt, kann mich nicht erinnern, aber sehe ja ein, dass es von mir sein muss. Wie ich‘s so sehe, seh ich auch, warum nie gedruckt: wohl missfallen, aus selben Gründen wie jetzt. Veerle und ihr Mann aber begeistert: Experimentelles und Neues könne ich ja immer noch machen, aber das hier sei etwas ganz Seltenes, was kaum noch jemand kann, davon wünscht sie sich die Auflage für die Foundation, meine Pflicht wär dann erfüllt für die zwei Wochen und ich wär frei. Na, für mich fühlt sich die Pflicht an wie eigentlich frei: Druckaktion an der schönen alten Zylinderpresse! Veerle macht Fotos und Videos von meiner Aktion, ich zuerst immer Maske ab, weil wie sieht das aus? Weiterdrucken, Maske auf. Veerle legt gar nicht viel Wert drauf, nur wenn ihr Mann da wäre (gefährdet). Irgendwann lässt sich die Maske nicht so spontan für jedes Foto abmachen, nun gut, auch ein ästhetischer Vorteil: statt Gesicht verdampfbadet und verhustenkrampft, super coronakonform ins Instagram.
Veerle schenkt mir einen ziemlich großen Holzstichdruckstock. Sie hat etliche. Früher einige Holzstiche gemacht, hier ist auch noch ein angefangener Stich drauf, den sie nie beenden wird. Wenn ich nun ein Bild aus Antwerpen auf die Rückseite mach?
Veerle und Willem verreisen heut übers Wochenende, gestern schon verabschiedet, heut klingelt mittags mein Handy, Willem, ich hör ihn im Handy und unten im Hausflur gleichzeitig. Wir sollen kurz runter kommen, special details, wenn wir allein das Haus hüten. Maske, wo ist die Maske …, Christoph schon mal allein runter. Als ich endlich komme, hat er sich alles fertig zeigen lassen, wir helfen ihnen mit Gepäck ins Auto. Ab nun obliegt uns die Verantwortung für ein großes Haus mit wertvollen Bildern und Druckpressen.
Christoph: „Ich soll dir ausrichten, dass du Holzstich machen sollst. Das ist eine so seltene und besondere Technik und die liegt dir so gut, das dürfe nicht aussterben und du musst …“ - klingt genauso wie Christoph selber immer. Und nach Herrn Rieß. Herr Rieß, Rudolf Rieß aus Nürnberg, muss, wenn ich Holzstich auch nur erwähne, immer mit gedacht werden. Sobald ich Hirnholz oder Stichel oder Druckpresse sehe oder sage, steht Herr Rieß vor mir und erklärt und zeigt mit gewichtigen ernsten Worten, endloser Geduld, ach wo, glühender Leidenschaft, jeden Handgriff so, dass man sich’s aneignet und der Zauber noch gesteigert ist.
Heute Krankheitsschontag, erst nach 3 nachmittags raus. Café am Platz der Liebfrauenkirche. Die markante Häuserfassadenreihe, alte Stufengiebel und Überbautes oder Neugebautes, wäre doch einen Holzstich wert.
Christoph widmet sich direkt der Kirche: Denn sie ist, wie einem Heiligen, einem Maler geweiht: dem berühmten Quentin Matsys. Direkt am Eingang der Schriftzug:
QVINTINO METSIIS
INCOMPARABILIS | ARTIS | PICTORI
ADMIRATRIX GRATAQ(ue)| POSTERITAS
ANNO POST OBITVUM | SAECVLARI
MDXXIX POSVIT
Quentin Matsys,
dem Maler von unvergleichlicher Kunstfertigkeit,
hat als seine Bewundererin, und dankbar, die Nachwelt
(dieses Denkmal hier an der Liebfrauenkirche)
zur Hundertjahrfeier seines Todesjahres
im Jahre 1529 errichtet.
CỌNNVBIẠLIS AMỌR | DE MṾLCIBRE | FẸCIT APẸLLEM.
Die Liebe zu einem Mädchen,
das er unbedingt heiraten wollte,
hat aus Mulciber (dem Gott Vulkanus = dem Schmied Matsys)
einen (zweiten, gottgleichen Maler) Apelles gemacht.
Übersetzt von Christoph, für den Zweck der Latein-Lehrseite (durander.de).
Heut schon Donnerstag. Einen Tag in den 2 Wochen müssen wir die Kirchen besuchen, steht fest. Abends zweite Einkehr in Café vor der Karl-Borromäus-Kirche, so ein anti-lutherischer Katholik, sagt Christoph, und weiß sicher wieder ein ganzes Buch darüber. Bücherregal, und auf welcher Seite was steht. Ich zeichne nichts mehr, Schonabend meines Schontages heute. Morgen Verabredung mit Sarah Daeleman, Galerien besuchen, ist gebürtige Antwerperin!
Sarah Daeleman kannte die Geschichte von dem berühmten Maler Matsys nicht. „Matsäss“, korrigiert sie uns, so wird es gesprochen. Quentin Matsys, niederländisch Quinten Matsijs („Matsäss“). Christoph erzählt: Es gibt zwei Geschichten: Die erste: Matsys, ein Schmied, war in ein Mädchen sehr verliebt, aber sie wollte einen Maler, da schulte er sich um und wurde einer der berühmtesten (vom Vulcanus zum Apelles). Über seiner Widmung am Kircheneingang sind dann auch die Symbole Malpalette und Schmiedeamboss.
Die zweite: Es sind Bettler mit kleinen Holzschnitten (Sammelbildchen) um die Häuser gezogen für die Kinder. Matsys hat diese Holzschnitte nachgemalt und daran das Malen erlernt. Aber als Erwachsener? Wenn er doch zuerst Schmied war? Überhaupt war Sarah, als Antwerperin, nur einmal in der Kirche. Wie wir in Leipzig oder Brandenburg unsere eigenen Kirchen kaum kennen.
Sarah führt uns ins Museum De Reede, Grafiken von Goya, Munch und Rops. Goyas unübertroffene Radierungen, „Master of Aquatinta“, sagt Sarah ehrfürchtig, die alle Grafiken gut kennt, und selbst viel in der Technik gearbeitet hat. Daneben haben es mir besonders einige Holzschnitte von Munch sehr angetan, der macht alles, was jeder Grafikwerkstattstudent in den Anfängen unbedingt zu vermeiden lernt, grobe Druckfehler, die beseitigt werden müssen: Farbe hier viel zu blass, da Dreck rein geraten, richtig große Knotenklumpen, hier irgendwas verschoben und doppelt gedruckt - in einer Perfektion! Virtuose Dreckdrucke, wie ein rasend Verzweifelter, oder im Dämmerzustand, wie Kid Shelleen (Lee Marvin) in Cat Ballou (Jane Fonda), nur nicht mit Revolver, sondern Druckrolle in der Hand, taumelnd aus den Augenwinkeln, und mit der andern die Flasche an Mund. „Kid, Du hast ganz rote Augen!“ - „Die müsstest du aus meiner Richtung sehen“. Angeblich soll Munch von einem Tag auf den andern plötzlich clean gewesen sein, also auch wie Kid Shelleen in Cat Ballou. Ich muss ja nicht sagen, dass Munch ganz ernsthaft verzweifelt war, sogar schon im mystisch abgründigen Sinne, okkultistisch, von Goebbels dann auch als Inbegriff des „Nordisch-germanischen“ verehrt, bevor die andere Seite im Kunststreit überwog, und Munch plötzlich als „entartet“ galt.
Café wie gestern vor der Matsys-Kirche (Liebfrauenkirche), heut zu dritt, ich wieder mit belgischer Waffel. Sarah hat gesagt, sie essen in Belgien gar nicht so diese Waffeln, jetzt wo ich von rede, denkt sie seit Ewigkeiten überhaupt das erste mal dran. Christoph erzählt: sei wie mit Leipziger Lerchen, in Leipzig isst sie nur der Tourist. Erste Zeichnung von heute: Immer stellen sich Leute für Fotos oder Selfies an den Steinbrunnen mit der von hoher Kunstfertigkeit schmiedeeisernen Überwölbung (ein Werk von Matsys, Brunnen-Inschrift zu Matsys).
Auf dem Platz vor der Liebfrauenkirche ist eine Art Skulptur, disney-artig, ein Hund, auf dem ein Kind liegt wie auf einem Wal, beide mit Laken (auch aus Stein) zugedeckt. Touristen knien immer davor und darauf herum und machen Fotos und Selfies, Sarah erzählt, die Japaner hätten das im Touristenprogramm, es sei zu einer Geschichte über Antwerpen, bloß die Antwerpener und Belgier wissen überhaupt nichts von so einer Geschichte, die sei wohl japanisch, und die Japaner denken, antwerpisch.
Spaziergang zum Hafen, harte Sonne auf den Kopf, weite Beton- und Wasserflächen, Lokale mit tollem Blick auf ein- und ausfahrende Schiffe, nur zu heiß. Vielleicht abends bei Sonnenuntergang. Die Klappbrücke soll hochgeklappt ein Gedicht auf der Unterseite offenbaren und an ein Buch erinnern. Sieht man jetzt, runtergeklappt, nicht.
Weiter, Straßen, Park Spoor Noord. Sarah erklärt, der Park war stillgelegtes Bahngelände, verwahrlost, mitten in der Stadt, deshalb Spoor = Gleis. Mir schallt noch die Stimme der Bahnhofdurchsage im Ohr, als wir in Antwerpen angekommen sind: Spoor 1, Spoor 8, …,
das r ist sehr markant zu rollen, das Sp nicht wie der Deutsche etwa Spur sagt, sondern wie in Hospiz, das s nicht als sch.
Die neuen Bäumchen im jetzigen Park sind noch sehr klein, dort hinten eine Oase: Ehemalige Bahnhofhalle mit historischen, schnörkligen Stahlpfeilern, darin ein Café, Liegestühle wie am Strand um eine bewässerte Betonfläche herum (frische Wasserluft) und Fontänen, viele Kinder in Badesachen, Fläche so groß wie Schwimmbad, nur nicht mal knöcheltief, aber Fontänen und Rennen und Spritzen! Und tappeln zu ihren Eltern zwischen den Cafétischen herum, sitzen am Tisch in Badehose und nassen Haaren. Urlaub.
Christoph und ich sitzen abends noch so gut vor unserem Haus, in sehr gemütlichem Café vor der Bahnbrücke (feine Architektur). Kann mich kaum entscheiden, welche Anblicke von heute ich nachher in Grafiken verarbeite.
Vormittags stille Arbeit im „Kämmerlein“, im ruhigen, konzentrierten Dach-Studio. Veerle hat mir eine Büchse Werkzeuge gegeben, darin eine Radiernadel in einen Gummihai gebohrt, bzw. von einem verschluckt. Christoph übersetzt Inschriften von Plantin- und Lipsius-Porträts, ich übertrage eine Zeichnung auf eine Plexischeibe, Kaltnadelradierung.
Nachmittags Stadtspaziergang. Sabbat und viele Juden gehen spazieren, man hat den Eindruck, alle heut besonders aktiv, aber Christoph sagt, im Gegenteil: Am Sabbat darf man keinerlei Beschäftigung nachgehen, nur einmal ums Quartier, nur 800 Meter, sagt Christoph, „und das machen die dann auch“. Auf dem Spielplatz zuerst lauter kleine in ganz schwarz, fünfjährige Mädchen in langen schwarzen Kleidern spielen. Ein recht alter Mann auf einer Sitzbank, mit langem grauen Bart, stellt sich als der Vater heraus, 5 Kinder, die Jugendliche spielt nicht mehr, sitzt neben ihm. Bei längerer Beobachtung muss die Jugendliche aber die Mutter sein. Als sie aufstehen und den Spielplatz verlassen, läuft er schon gebrechlich etwas gekrümmt, gebeugt. Christoph erzählt einen Witz: „Schmul ist 50 und will eine 20-jährige heiraten. Der Rabbi rät ihm ab: Guck doch mal, wenn sie 30 ist, dann bist du 60! Und wenn sie 40 ist, bist du 70! Und wenn du 80 bist, ist sie 50, was willst dann noch mit so einer alten Frau!?“
Viele der Männer, in langen schwarzen Mänteln, tragen heut besonders auffällige Hüte, wie russische zylinderförmige Fellmützen, nur viel viel breiter wie Wagenräder, so in der Form. Ich wundere mich: So warme Fellmützen, in Israel? Nee, erklärt Christoph, die Juden hier sind doch aus Polen oder Russland vor Jahrhunderten eingewandert, und die Mode 17./18. Jahrhundert.
U-Bahn ins Stadtzentrum. Kommen zufällig durch die Börse, prächtig wie ein Schloss oder sehr reiches Rathaus!
Jakobkirche. Ab Lettner abgesperrt, Restaurierung. Wand über gesamte Hallenhöhe von Gewölbe bis zur Erde eingezogen mit illusionistischem Foto der Kirche, von weitem denken wir, da geht‘s weiter, nur in merkwürdigem Licht. Wir sehen also nicht Rubens‘ Grabstätte, nur vorderen Teil, Langhaus. Der Bildersturm hat innen fast alles restlos zerstört, nun also ein Sammelsurium aus dem Barock, aber wenn man genauer hinsieht, braucht man auch dafür über eine Stunde. In einer Kapelle ein Van Dijk: Der Heilige Georg.
Später Nachmittag: Seit Tagen der zentrale Touristenplatz vollgedröhnt von Zelten, Bühne, Bierfest. Direkt dort Cafés viel zu laut, eher etwas mehr zur Ecke hin, scheint zuerst erträglich, aber nur solange man schwer mit Zeichnen beschäftigt ist. Bild fertig, und fällt einem die Decke, obwohl im Freien, auf den Kopf.
Erst als wir aufstehen, sehen wir den Schriftzug über dem Café: Van Dijk, und eine Tafel im Eingang, die darüber informiert, dass dies sein Geburtshaus ist. Recht oll innen und überformt, nichts erinnert mehr an damals, außer die waghalsig enge Wendeltreppe zur Toilette hoch.
Weg durch die Stadt, zwei Männer und eine Frau haben sich eingehakt und gehen ziemlich mühsam, die Frau torkelig, sag mal, so betrunken? Ordentliche, gar nicht pöbelige Leute vom Anschein, sprechen leise und geben sich außerordentliche Mühe, wenigstens annäherungsweise geradeaus zu laufen. Bestimmt wollten sie auf dem Bierfest nur mal kosten. Und noch eins bisschen kosten, und noch eins, aber mit Bedacht, sind ja keine Säufer, und so hat‘s jetzt geendet. Und noch mehr folgen ihnen, immer zu dritt eingehakt und vorsichtig, um sich stabilen Anschein zu geben. Christoph meint, das belgische Bier sei ja wirklich umwerfend gut. Drei davon und wär man wirklich am Ende, drei kleine wohlgemerkt.
Abends im Garten bei plätscherndem Brunnen. Immerhin zwei Radierungen (Kaltnadel) stehen zum Drucken am Montag bereit, wenn Veerle und Willem zurück kommen. Veerle hat Order gegeben, dass sie auf ihrem Hirnholz, das sie mir geschenkt hat, bis Montag einen Holzstich sehen will - in dem großen Format! Sitzt man ja, ganztägig, 4-5 Tage! Ohne Antwerpen gesehen zu haben. Sarah hat gesagt: Typisch Veerle.
Koninklijk Museum voor Schone Kunsten. Christoph und ich verdrücken uns zum Portemonnaiesuchen an die Seite neben den Eingang, da wollen ständig Leute was, so eine uninteressante Tafel, scannen da was ein. Belgier scannen ständig überall was ein. Ach so, da sollst du Tickets kaufen! Nee, wir gehen in bar rein, und hoffen, hier unseren Hunderter klein zu kriegen. Seit einer Woche versuchen wir Hunderter klein zu kriegen, in Cafés nicht möglich, hat der Belgier nie Wechselgeld und will Kartenzahlung. Im Museum De Reede auch Karte. Discounter Karte. U-Bahn-Tickets Karte. Sarah hat für die U-Bahn eine Art sms oder was wohin geschickt und dadurch eine digitale Bahnkarte bekommen, kennt der Deutsche, oder wir zumindest nicht. Und hat erzählt, zahlt überall Karte. Jetzt im Königlichen Museum sind wir trotzdem nicht wenig verwundert, als da gar keine Kasse ist, gleich Ticketkontrolle. „Can we buy some tickets please - bar?“ - „No sorry, you have to scan the code and buy it online.“ - Ich öffne die Scan-app, lang nicht benutzt, oh nein, macht die erst Updates! Warten. Internet weg. Warten … Christoph hat Glück mit seiner Scan-app, wir suchen draußen ein abgelegenes Plätzchen, Lagebesprechung, wie wenn Caesar seine Truppen sammelt. Der Belgier macht das so nebenbei, im Vorbeiaufen ohne Innehalten scannt er alle nötigen Codes, tippt was und hat das Ticket sogleich zum Vorzeigen. Das Handy, also das Gescannte, fragt uns nach Namen und Email. Früher kaufte man ein Ticket anonym, was interessiert mein Name? Zahlung per Mastercard (und paar andere Methoden). An sich sehr schnell und einfach, Tickets landen im Email-Postfach, und ein Zeitfenster: dürfen uns von 11:30Uhr - 12Uhr einchecken. Zweiter Versuch ins Museum, diesmal mit Tickets. Die Dame bittet uns, Rucksäcke einzuschließen. Aber was sind denn das für Schließfächer?? Keine Schlüssel, nur Drehknöpfchen und Zahleneingabe wie am Bankautomaten. Erklärschildchen in verschiedenen Sprachen, wo wir vor Schreck nicht sogleich lese- und knobelfähig sind. „Wir haben doch nur ne halbe Stunde zum Einchecken! Bis wir das mit dem Schließfach raus haben, ist die um!“, ruf ich entsetzt. Leute um uns rum machen an ihrer Schließfachtastatur tipp tipp tipp tipp tipp, haben‘s offen, legen was rein, wieder zu, tipp tipp tipp tipp tipp. Herrgott, woher bekommt man denn einen Code? Auf dem Ticket vielleicht? In der Email? Empfangsdame fragen? Wir versuchen nun doch mal, das Erklärschildchen abzuarbeiten: 1. Rucksäcke ins Fach, 2. Pincode ausdenken und folgendermaßen festlegen. 3. dies und 4. das, fertig. Hat geklappt! Glücklich nun zum Eingang, jetzt Ticketkontrolle, nu wo sind denn, …, ach so ja Email. Und Akku bald leer! Die Frau scannt unsere Codes von Ipad und Handy, ich brummle in mich hinein: „Ging früher alles mal unkomplizierter.“
In der Sammlung umwerfend gute Meister!
Rubens, Van Dijk, Jordaens. Van der Weyden, Van Eyck, Matsys …
Ich notiere mir Vergleiche, Besonderheiten, Christoph sammelt Inschriften, wo es zu sammeln gibt: findet nicht viele, Bildersturm hat die Inschriften-freudige Gotik und Renaissance-Kunst vernichtet.
Rubens neben Jakob Jordaens und Antoni van Dyck (van Dijk).
Rubens in goldiges, warmes Licht getaucht. Jordaens stärkere Kontraste: härtere Lichter, sattere Oberflächen. Rubens seidig, Körper, Stoffe, Stein (Architektur) alles wie Seide, schimmerig und fließend. Jordaens wie Plastikfiguren. Rubens Richtung Da Vinci, Jordaens Pop Art. Van Dijk Kompromiss: stärkere Lichter als Rubens, aber alles aus warmem seidigen Licht heraus. Es kommt aber auch vor, dass Jordaens u. Rubens nicht zu unterscheiden sind.
Quinten Massijs unglaublich fein in Zeichnung und Farbverlauf! Die Haare wie echt und noch zarter. Massijs verblüfft uns: Die Porträts einer Maria und eines Jesus haben von nahem betrachtet eindeutig leicht geöffnete Lippen und man erkennt die Zähne. Paar Schritt weiter weg sind die Münder vollkommen geschlossen!
Rogier van der Weyden so klein gemalt wie nur irgend vorstellbar.
Martin de Vos, 1590: sehr angenehme kühle Farbe, Sättigung zurückgenommen, trotzdem monumental satte Wirkung.
Bernhard van Orley. Jüngstes Gericht wie Film! Sehr präsent.
Ensor:
Vertreibung Adam u. Eva aus dem Paradies. Eine echte Erscheinung, echtes Ereignis, der große leuchtende Himmel gegenüber der matschigen, schlammigen Erde mit Schilfgras, öder grüner Fläche und Wald. Man sieht u. fühlt (Betrachter ist auf Erdebene) die Verlorenheit u. Einsamkeit und Auslieferung, Hilflosigkeit, und wie schön klar funkelnd der Himmel, in welchem wir eben waren, der jetzt für immer unzugänglich zu einem ewigen Sehnsuchtstraum wird, in den wir nie mehr zurück kehren können, die Unumkehrbarkeit, Verzweiflung, Grausamkeit. Mir scheint die christliche Hoffnung auf Erlösung nicht mitgemalt zu sein. Gottes Urteil viel zu hart, geradezu ungerecht, ein gnadenloser Gott, Verdammung zur Sinnlosigkeit. „Kosmische Katastrophe“, sagt Christoph. Von allen Darstellungen der Vertreibung aus dem Paradies ist Ensors, wie ich finde, die eindrücklichste, die ich bisher gesehen habe.
Abends Revue passieren lassen im Tee-Room am Hendrik-Conscience-Platz vor der Borromäus-Kirche. Auf einer Bank lassen sich abwechselnd immer Musiker nieder, jetzt ein Mädchen mit etwas kratziger Violine. Christoph liest im Sandrart über die großen Maler. Bis es dunkel ist, halb 11, Text schreiben im Dach-Studio, Blick auf nächtliche Lichter.
Morgens bereite ich den großen Holzstich vor. Veerle und Wim haben uns am ersten Tag auch „Scharreleieren“ in den Kühlschrank gestellt. Ich frage ChatGPT, was das heißt, antwortet er: „Scharreleieren" auf Deutsch bezieht sich auf Eier von Hühnern, die in sogenannten „Scharrraum“- oder Freilandhaltungssystemen gehalten werden. In diesen Systemen haben die Hühner mehr Platz und Bewegungsfreiheit im Vergleich zur konventionellen Käfighaltung. Die Eier, die von Hühnern aus Freilandhaltung gelegt werden, werden oft als „Scharreleier“ bezeichnet, um den Unterschied zur Käfighaltung zu betonen. Auf die Frage, welche Sprache das sei: Es handelt sich um ein deutsches Wort, das sich auf Eier aus Freilandhaltung bezieht, wie ich zuvor erläutert habe. Beschriftet sind die Eier mit 2, meines Wissens nach „Bodenhaltung“.
Weil man zum Holzstichgrundieren nur eine winzige Menge Eiweiß braucht, muss Christoph heut Rührei frühstücken.
In Veerles Regal im Dach-Studio, wo ich alles benutzen darf, findet sich eine Box Pigmente, darunter Titan Wit, dann ist ja alles beisammen!
Rezept nach Herrn Rieß: Eiweiß, Titanweiß, abgekochtes Wasser. Holz damit hauchdünn firnissen. Trocknet schneller als man‘s gleichmäßig verteilen kann, dann drauf spucken und mit Handballen weiter verteilen bis alles gleichmäßig ist. Wir haben damals immer recht viel rumspucken müssen.
Danach kann man auf beliebige Weise die Zeichnung übertragen. Man sieht dann zweierlei gut: auf weiß die dunkleren Linien, als auch was man bereits herausgestichelt hat (erscheint das gelbe Holz).
Fünf meiner Werkzeuge habe ich dabei. Veerle hatte letzte Woche in der Werkstatt unten eine Plastikbox aus einem Regal gezogen: Ihre eigenen Holzstichel, die Spitzen zum Lagern in Korken gesteckt, in erster Begeisterung hat sie gesagt, ich könne die benutzen, dann aber geschluckt, ich auch geschluckt, ein Grafiker schluckt, wenn‘s an seine Stichel geht. „No no, thank you, I have my own tools with me, they perfectly fit into my hands.“ Ach wenn das so ist, sie nickt sichtlich erleichtert.
Ab frühem Mittag für drei Stunden endlich die Matsys-Kirche von innen, kostet Eintritt, so sehenswert. Christoph notiert wieder alles an Inschriften, ich alles, was mir kunstgeschichtlich bemerkenswert erscheint. Etliche großartige Rubense: Kreuzaufrichtung und -abnahme. Christoph hat im Sandrart gelesen, dass Rubens im Caravaggio-Stil gemalt habe, wofür diese beiden Bilder ein Beispiel seien, bis ihm diese Malweise zu tardus und difficilis, zu zeitraubend und aufwendig wurde. Ein De Voss hängt, aber Matsys selber nicht mehr: seine berühmte Kreuzabnahme zur Restaurierung im Königlichen Museum (gestern besichtigt). Christoph hat im Sandrart gelesen, dass Matsys‘ Kreuzabnahme früher im Besitz der Tischlergilde war, die wollte es verkaufen, viele Interessenten, da kaufte es der Stadtrat, um zu verhindern, dass die Stadt dieses Meisterwerks beraubt werde. Auch vorher hat es schon der spanische König haben wollen. In einer Kapelle ein Epitaph mit Inschriften zu dem bedeutenden Drucker Plantin und seinem Schwiegersohn Jan Moretus, der die Druckerei übernommen hat. Das übliche Lob von Labor et Constantia. Die Lebensleistung des Jan Moretus habe darin bestanden, ein zweiter Plantinus, also wie sein Schwiegervater zu sein.
Nachmittags vor der Kirche auf dem Platz beim Italiener. Können uns nicht erklären, warum ganzen Tag bis abends kaum Gäste kommen, schmeckt gut, sitzt sich gemütlich, ungestört. Der Wirt steht sich vorm Lokal an der Speisekarte die Beine in Bauch. Christoph arbeitet an den etwas sperrigen Epitaph-Inschriften zu Plantin und Moretus aus der Kirche von eben. Ich beginne den Holzstich, tatsächlich, geht gut, auch ohne Werkstatt.
Veerle sms, dass sie wieder zu Hause sind. Den großen Feuerzeug-Schatztruhen-Hund, Sam, muss ich auch mal malen!
Veerle ist allein zurück gekommen, erzählt niedergeschlagen, dass der Hund, Sam, krank ist und keine Stufe mehr kann, Wim mit ihm im Landhaus geblieben. Ob ich auch wirklich niemanden angesteckt habe? Nein nein, alles in Ordnung, aber der Hund, Sam, mit dem Bein.
Sie gibt mir Papiere für Radierung. In Wasser einweichen, morgen drucken. Ihre alte Freundin kommt zufällig vorbei, sieht fast genauso aus wie Veerle, klein und gemütlich, Veerle erzählt von Sam und seinem Bein.
Veerles Hirnholz hat sich heut morgen sehr spröde gestichelt: An den langen dünnen Linien fusselt und bröckelt es, fühlt sich nach jahrelangem Austrocknen an. Herr Rieß hatte dafür immer Balsamterpentinöl, ich fand bei Veerle nur Spiritus, Aceton, Lampenöl, Benzin, Alkohol. Heut kann ich sie fragen: Nein, Balsamterpentinöl kenne sie nicht. Google-englisch: Gum Terpentine Oil, niederländisch: „Will be the same“, sagt sie, stimmt, Gomterpentijnolie. „So what is it used for?“, fragt sie. Äh, was heißt Holz pflegen? „Care for the wood, …“, ich tippe wieder ins google: behouden, ich lese ab: „Behuden“. Sie guckt mich fragend an, ich zeig ihr das im Google, „Behauden!“, sagt sie, so spricht man das aus. Ich muss ohnehin in den Künstlerbedarf, Antwerpen scheint etliche zu haben, einen gleich in der Nähe.
Bevor Christoph und ich uns aufmachen, zeigt sie mir eine Mappe Grafiksammlung. Ich sei ja jetzt, wo ich der Foundation Exemplare drucke und als artist-in-residence arbeite, automatisch member und erhalte dann meinerseits einen Druck von ihnen. Sie blättert durch und erzählt: ein Druck des israelischen Studenten, der sonst hier wohnt. In den Semesterferien muss er raus, nach Hause, und werden artist-in-residences wie ich einquartiert, nächsten Monat ein bedeutender japanischer Druckmeister. Und hier ist eine Radierung von Sheena (oh, gefällt mir gut!! Zart grün mit zarten Linien von zartem japanischen Papier, originell, sehr speziell). Und ein Druck von Veerle selber, Holzstich, schön transparent aufgelöste Flächen, und noch einer und, … Veerle lässt die Mappe die Woche über liegen, kann ich mit Christoph überlegen.
Christoph hat derweil die Rubensbiografie aus Sandrarts Academia Nobilissimae Artis, Nürnberg 1685, exzerpiert.
Künstlerbedarf. Wie ein kleiner Boesner, es gibt alles, Mixturen und Tinkturen, bunte Bastelsachen, Grundstoff für Handwerkliches, aber Gomterpentijnolie? Und wenn Veerle das nicht kennt! Fast wollt ich aufgeben oder nachfragen, steht da ein Balsamterpentinöl auf Deutsch, mit deutscher Beschreibung. Ob es was typisch Deutsches ist? Noch ein Pinsel und paar Blöcke Papier, Christoph hat derweil wunderhübsches Geschenkpapier erstöbert.
Druckmuseum Plantin-Moretus
Die einzige erhaltene Buchdruckerei aus Renaissance und Barock. Gegründet von Plantin, weitergeführt durch seinen Schwiegersohn und Familie Moretus. Lipsius war hier, Rubens ließ hier drucken.
Wir erinnern uns noch von vor 8 Jahren und wollten es wieder sehen: Karree alter roter Backsteingebäude um einen Hof. Knarrende Dielenräume, dunkle Holzvertäfelung. Große Porträtsammlung der Familien Plantin und Moretus, ein Porträt Lipsius‘ (gemalt von Rubens). Viele Führungen, Spanisch, lautes Knarren von ständigem Rumgelaufe, eng und auf der Pelle hocken.
Ursprünglicher Empfangs-Verkaufsraum zur Straße raus, Theke und Regale, Waagschälchen, wenn der Kunde bezahlt hat. Liste ausgehängt: verbotene Bücher, die nicht herausgegeben werden dürfen, darunter Luther, Melanchthon, Abälard. Vielleicht so: Kam der Kunde rein, sagt, er hätte gern ein Buch von Martin Luther, guckt der Verkäufer die Liste durch: steht tatsächlich unter M der Verbotene, nein den verkaufen wir hier nicht. Und kommt einer, sagt, er will Luther, unter L, ja da steht derselbe noch mal drin, na, kann keiner auf der Liste entwischen, weil er etwa unter anderm Buchstaben drin steht.
Christoph korrigiert mich: Moretus hat die Liste gedruckt, deshalb hängt sie dort ausgestellt, er hatte wohl das Druckrecht vom Vatikan.
Korrekturraum, wo die gesetzten Texte/Probedrucke korrigiert wurden, mussten Leute ganzen Tag Korrektur lesen. Und Lipsius‘ Arbeitstisch! Massivholz, am Fenster mit Blick in Hofgarten, klösterliche Konzentration, Kamin für den Winter. Christoph sagt, so viel wie Lipsius geschrieben hat, kamen die Setzer kaum nach. Ein Buch aufwendig gedruckt, hat er schon 3 neue geschrieben.
Druckraum, viele Kniehebelpressen in der Reihe. Eine Zylinderdruckpresse, große Walze aus dunklem harten Holz! Ohne Zahnrad-Übersetzung, direkt an einem großen Drehkreuz kurbeln, muss schwer gegangen sein, auf einem Kupferstich sieht man, wie mit Händen und Füßen, stemmend und tretend, gekurbelt wurde.
Setzkästen mit Bleilettern. Es gab eine Liste mit verfügbaren Beispielschriften, den index characterum, heute für Touristen als Kopie zum Blättern ausgelegt.
Vieles winzig klein gedruckt! Winziges Griechisch, wohlgemerkt spiegelverkehrt, aus dem Setzkasten zusammen gesammelt. Christoph müht sich mit dieser matschigen Kopie: als Faksimile gar nicht mehr lesbar, wenn das so „fotokrepiert“, äh fotografiert ist, verspricht er sich aus Versehen. Der Index ist eine Spruchsammlung stoischer Philosophie aus Cicero, vorneweg auf Griechisch zum Elend des kurzlebigen Menschen, aus Homer, Euripedes, Gregor von Nazianz, insgesamt eine kleine Summe der Lebensweisheit, sagt Christoph, eine Anthropotypographie. Christoph hat vor, sie für seine Lehr-Sammlung zu verwenden.
Merkwürdig, warum ist in den Setzkästen alles kopfrum? Spiegelverkehrt drucken klar, aber kopfrum?
Obere Etage Bücher in Vitrinen, 16. Jh. Bilder meist Kupferstich, Text Hochdruck.
Das Emblem der Druckerei überall zugegen: Zirkel und Spruch labore et constantia wie in der Grabinschrift der Matsyskirche, hier in allen Büchern u. Wappenrelieffs, in Zimmern u. an Moretus‘ Büste (Sandstein) an einer Wand im Hof.
Ausgerechnet die Bibel auf griechisch u. syrisch in Mikroformat für die Tasche, ruft Christoph. Wer soll das gesetzt haben? Und so klein gelesen haben? Wohl für den, der sie eh auswendig kannte, überlegt Christoph.
Alle Räume in orig. Tapete, dicke lederige, dunkel-braun-gold gemusterte mit Prägung.
Wohlhabendes Bürgerhaus, Kaffeeservice, Kronleuchter, Vertäfelung mit Relieff, Kamine mit schönen Kacheln, hier und da eine Büste, Gemäldeporträts, gewissermaßen am Vorbild Schloss, aber mehr Holz statt Gold.
Gemessen an der bedeutenden Leistung dieser Familie scheint es trotzdem noch bescheiden, bzw. sieht nach strenger Arbeitsmoral aus, wie um zu sagen: „Mehr braucht man nicht, nicht übertreiben, geh er wieder an die Arbeit.“ Labore et Constantia.
Einige Druckstöcke. Ich bin der Meinung (und überzeuge mich später in unseren alten Fotos), dass vor Jahren viel mehr waren, heut wohl nicht mehr ausgestellt - auch Bild-Blöcke, in denen Kästchen ausgespart sind, um austauschbar Bleilettern einzufügen. Vor paar Jahren habe ich stundenlang versucht, die Holzstücke, 16./17. Jh., in dem schummrig schlechten Licht zu fotografieren, wie um sie Herrn Rieß zu zeigen. Man fragt sich angesichts der Feinheit immer: Holzstich oder Holzschnitt? Sind manchmal rundum schwarz vom Drucken und Reinigen, keine Holzstruktur mehr sichtbar. Manchmal ein Sprung, ein Spalt: Hirnholz? Andermal möcht ich mir Längsfasern an den Seiten einbilden: Langholz? Könnte man sie doch aus der Vitrine nehmen und richtig betrachten! Die Museums-Einrichter müssen’s wissen. Und einer wurde mindestens 9000 mal gedruckt, sagt ein Museumsschildchen.
Das Bett! Ziemlich kurz der Kasten, nicht zum Ausstrecken. Sehr kleine Leute oder geknickt, halb sitzend. Und das, wo Moretus bei aller Geschäftigkeit gut schlafen muss.
Gedrucktes: viele Bibeln und Weltkarten, Welt ausmessen, erforschen, erobern, Mathematik, Schiffe, Meer. Es ist auch die Zeit, als Antwerpen Brügge ablöste als größtes Handelszentrum, und die Antwerpener Börse wurde gebaut.
Herr Rieß und ich haben Stunden und täglich darüber gebrütet, ob schon Dürers spätere Holzschnitte nicht Stiche waren. Herr Rieß hatte bei seinem Lehrmeister die Aufgabe erhalten, einen früheren Dürer-Holzschnitt (vor der Colmar-Reise) u. einen späteren (nach der Colmar-Reise) schneide- und stichtechnisch nachvollziehen, mit der Frage: Langholz oder Hirnholz? Messer oder Stichel? Herr Rieß‘ Antwort auf den späteren Schnitt war: Hirnholz und Stichel, anders nicht möglich.
Die meisten Lexika nennen Thomas Bewick als Erfinder des Holzstiches, 18.Jh.
Doch diese These ist eindeutig widerlegt (Dissertation Prof. Eva-Maria Hanebutt-Benz, Gutenberg-Museum Mainz), die ich auch einmal als Besucherin in Herrn Rieß‘ Werkstatt kennen lernen durfte, die auch nicht heraus bekam, seit wann es Holzstich gibt.
Dabei müsste es so einfach sein: Die Druckstöcke liegen ja da.
Heut morgen Probedrucke der Pappradierungen, die Cutter-Linien drucken sehr scharf! Verständlicherweise von so schwachem Material höchstens 10 Drucke. Veerle führt mich in ihre elektrisch laufende Tiefdruckpresse ein, so etwas noch nie gesehen, kein Kurbeln an großen Rädern, einfach hinsetzen, gelbe Fernbedienung halten, Knopf drücken, schiebt sich der Drucktisch von allein vorwärts, und dreht sich die Walze.
Christoph bearbeitet Rubens‘ Biografie von Sandrart. Eine ganze Reihe Textausschnitte hat er schon zu Antwerpen für Lehrzwecke übersetzt. Antverpia proferendis pictoribus Roma felicior est.
Antwerpen ist, wenn es um die Zahl der Maler geht, die es hervorgebracht hat,
glücklicher = fruchtbarer / erfolgreicher als Rom.
… Und so stammt u.a. aus ebendieser Stadt auch Peter Paul Rubens
(der größte Maler seiner Zeit).
Wir kommen heut am Rubenshaus vorbei, abgesperrt, Restaurierung. Vor paar Jahren haben wir es besichtigt, das „mega“ Atelier, also für riesige Bilder, mit Fensterlicht von oben. Auch darüber schreibt Sandrart, hat Christoph übersetzt:
Rubens Haus
äußerst großzügig und wunderschön,
und innerhalb dessen, neben dem Garten,
eine Pinakothek = Gemäldesammlung
nach dem Modell eines Rundtempels,
mit Einfall von Tageslicht durch die Decke.
Kunstmarkt
Ein Londoner hat ihm ein lukratives Geschäft angeboten.
Da soll ihm unser (guter Rubens) geantwortet haben:
da sei er nun leider um schlichte 20 Jahre zu spät gekommen,
da er, Rubens, in diesem Zeitraum den Stein der Weisen =
die alchemistische Kunst, Gold zu machen, schon gefunden habe,
und zwar vermittels Pinsel und Farben.
Megalographie
Dann fertige er viele Große Stücke (später: =„Schinken“)
für den König von Spanien an,
und für andere Adlige Bilder von ähnlichem Format,
die allesamt höchstes Lob fanden =
absolut den Publikums- und Zeitgeschmack trafen,
sodass „gleichsam aller Leute Münder
von Rubens‘ Lob überfloss“ = alle Welt von ihm schwärmte =
ein regelrechter Rubens-Hype entstand.
Heut hat Christoph Van Dijk bearbeitet, Rubens‘ Schüler:
Als er die ersten Fundamente seiner Erfahrung = Kunst in Antwerpen
bei Peter Paul Rubens legte, wurde er von diesem ständig
für seine Megalographien = Riesengemälde in Anspruch genommen.
Museum Mayer van den Bergh
Fritz Mayer van den Bergh, 19. Jh. hat nur das Feinste gesammelt, erlesenste Stücke des 14.-16. Jhs, mit Vorliebe auch viele unbekannte hervorragende Meister. Das Museumsführerbüchlein schreibt, dass van den Bergh zu manchen Nachforschungen angestellt hat. Ziemlich zu Anfang hängt ein unbekannter Meister: Ansicht von Antwerpen, 16.Jh., damals schon so olle Mauern und dunkle Fenster, als wären die Häuser unbewohnt mit Markt voller Menschen davor. Touristen zieht‘s am meisten zu Pieter Bruegels Schneelandschaften und Grotesken. Wir waren uns sicher, hier vor Jahren mit größter Begeisterung vor vielen, Christoph meint ein Dutzend, extrem klein gemalter Landschaften Jan Bruegels d.Ä., gestanden zu haben, und finden heut nur einige wenige. Dritte Etage abgesperrt, Christoph googelt Infos zum Museum und zu Bruegel, findet entsetzt viele bei privatem Kunsthändler Lempertz in Bonn! 10.000 Euro, 30.000, 120.000, bis zu 1 Mio. „Das Museum hat die Bilder verscherbelt!“ - „Na, wart doch mal, wir fragen erstmal.“ Wir fragen den Pförtner und Aufsichten, wissen sie erstmal gar nicht, ob sie solche Bruegel-Bilder je hatten oder noch haben, sehen im Computer nach: Ja, sind entweder in Restaurierung oder auf Wanderausstellung, wohl nicht verscherbelt. Christoph ungläubig. Gebäude auch sehr sehenswert: Altes knarriges Holz, Treppen, Winkel, Saal, Durchblicke, Säulchen, Zimmerchen, zum Verlaufen und Verkriechen und am liebsten drin wohnen.
Abends lang in Cafés, wir brauchen jetzt immer einen großen stabilen Tisch: Für Holzstich. Kommt voran. Belgien ähnlich wie Slowakei: Man bestellt und kann endlos in Ruhe sitzen und werkeln. Morgen reiner Arbeitstag geplant.
Heut ist eigentlich schon der 25. August, an dem ich schreibe. Gestern nämlich Panne:
Abends nach 10, als es ans Schreiben gehen sollte, Ipad weg. Wo ist das Ipad? Im Lindemanns am Dageraadsplaats? Nein beim Einkauf war es noch da. Computer I-Cloud login, Ortung. Map tut sich auf, wird geortet, und da leuchtet er, der Punkt! In der Statie-Straat! Wo ist das denn? In einer Apotheke. Da waren wir aber nicht, entweder ungenau geortet, ah ja, wir waren gegenüber im Carrefour-Express einkaufen. Oder hat jemand gefunden und in Apotheke abgegeben. Punkt bewegt sich nicht. Immer noch nicht. Gutes Zeichen, wenn mein Ipad nicht herum läuft. Auch, dass es nicht privat bei wem eingekehrt ist. Wir eilen abends im Dunkeln zum georteten Punkt, obwohl klar, alles geschlossen. Die Apotheke existiert aber gar nicht. Vor dem Carrefour-Express noch mal genaue Ortung, diesmal leuchtet der Punkt exakt auf der Fläche des Carrefour-Expresses, wo wir vor Stunden erschöpft und knitschig einkaufen waren, und schreibt dazu: „Weniger als eine Minute entfernt“. Ipad liegt praktisch direkt vor unsrer Nase, hinter verschlossener dunkler Tür. Öffnet morgen früh um 7. Wie ist das passiert? Wir hatten die Arbeitssachen im Gepäck gehabt, konnten die eingekauften Flaschen und Joghurts nicht da drauf packen, Arbeitssachen heraus geholt, an Rand gelegt, … Ich luge durch die dunkle Scheibe, Ipad in so unauffälliger grauer Hülle, dass es vielleicht keiner bemerkt hat. Oder im Einkaufswagen? Die standen draußen vor der Tür, wurden offenbar rein geholt.
Heute, 25. August, früh um 6 aufgestanden, zum Carrefour-Express geeilt, dreiviertel 7 brennt schon Licht, eine erste Kundin steht vor verschlossener Tür. Wir überlegen, wie wir kommunizieren: Mit Verkäuferin, oder Security, und Ausweis zeigen, beweisen, dass es mein Ipad ist. Die Reihe Einkaufswagen wurde schon raus vor die Tür gestellt. Ich spähe die Wagenreihe ab: „Da ist es! Da ist das Ipad!“ Mittendrin in einem der eher hinteren Wagen, für jedermann greifbar im Freien, und niemand hat es seit gestern bemerkt. Hat Kunde für Kunde seinen Wagen in die Reihe hinein geschoben, und weil offenbar mehr Kunden gingen als kamen, wurde unser reingeschobener Wagen nicht noch einmal herausgeholt. Zum Ladenschluss ganzer Wagenzug reingeholt, heut morgen wieder rausgestellt, hat es der Angestellte auch nicht dort mittendrin gesehen. Ich angle hinein und halte mit allergrößter Glücksengel-Dankbarkeit das wertvolle persönliche Datengerät in der Hand.
Überhaupt komischer Tag. Als wir gestern von diesem Einkauf kamen, begrüßten uns Veerle und Vim, beide traurig: Der Hund ist nicht mehr unter uns, ist jetzt im Landhaus gestorben. 11 Jahre alt. Kein riesiger schwarzer Schatztruhen-Hund mehr auf halber Treppe. Das erste, was uns hier am Tag der Ankunft begegnet ist, war ja beim Läuten sein Bellen hinter der Tür.
Als wäre das Wetter auch traurig, abends Gewitterregen, soll die nächsten Tage so bleiben.
9 Uhr früh. Vorhin sagten wir, heut nach Löwen Ausflug. Nach meiner Ipad-Rettung war ich für eine Stunde in der Werkstatt unten, Veerle mit noch leiser Morgenstimme auch die Treppe herab getappt: „So früh schon!“ Da es ja gestern abend schon gegen nachts um 12 war, als ich noch gedruckt habe, und sie herab getappt kam: „So spät noch!“ Eben weil wir einen Ausflug vorhaben. Aber jetzt dollstes Regen-Gewitter-Wetter, doch nicht nach Löwen?
Regen legt sich. Ausflug nach Löwen. Keine Zugfahrstunde von Antwerpen entfernt, Geburtsstadt und Wirkungsstätte des Justus Lipsius (dessen Porträt uns vorgestern im Plantin-Moretus-Druckmuseum begegnet ist, gemalt von Rubens).
Kaum aus dem Bahnhof, die Paradestraße entlang: Lipsius als Standbild auf hohem Sockel. Die Inschrift erzählt, dass der König die Statue dem Professor Lipsius widmet, nachdem die (katholische) Universität wieder hergestellt wurde. Wim hat erzählt, dass er früher als Journalist in der Straße sein Büro hatte.
Christoph hat ein lateinisches Distichon auf ein Porträt vom Justus Lipsius‘ bearbeitet:
Justus! Zierde deines Vaterlandes,
Gipfelpunkt der Latenischen Sprache:
wie du an Weisheit hervorragst,
so leuchtest du durch deine Frömmigkeit.
Als Statue guckt er genauso wie in Gemälden, wache scharfe Augen, fragender Blick, wie ein erstaunter Beobachter, fast etwas entsetzt, zugleich sich genaue Urteile bildend, Christoph sagt „unerbittlich“, und kennt ja Lipsius aus den Schriften. De Constantia: dass man durchhalten soll, eine Liste der Millionen Toten der Weltgeschichte, wie ein Totentanz, und dass man nicht jammern soll, sondern seinen Mann stehen in der Geschichte. Geschrieben aphoristisch, präzise, in brillanter Wortgewandtheit, immer mit Witz.
Der Stadtkern ist auf der Landkarte ein sauberer runder Kreis, klein, voll prachtvollster Architektur der Gotik. Am imposantesten steht das Rathaus mit Hunderten Skulpturen über die ganze Fassade, wie ein riesiges Skulpturen-Regal, oder wie himmlische Heerscharen geordnet, Fürsten und Ritter. Wir googeln nach: Künstler, Gelehrte, Patrone der Stadt, die sich für Freiheit eingesetzt hatten, Grafen und Herzöge von Brabant (236 Figuren, erst 1850 in die Fassade eingesetzt, Historistisch), eine Art Geschichtsbuch als Gebäude, eine Doku. Mindestens ein ganzes Seminar mit täglich Referaten kann man einrichten, um alle Persönlichkeiten samt Stadtgeschichte darzulegen, die an diesem Gebäude versammelt sind.
Wir sitzen lang auf dem Platz mit Blick auch auf die Sint Pieterskirche. Mein Holzstich erhält seine letzten Züge. An fast allen Tischen um uns herum hören wir Deutsche reden, anders als in Antwerpen, überall Deutsche. Neben uns skyped ein Deutscher eine Stunde mit seinem Laptop, hört offenbar nicht, dass Christoph und ich uns ebenfalls deutsch unterhalten, fragt uns auf Englisch, ob wir kurz auf seinen Rucksack aufpassen könnten. Auch wir zum Kellner auf Englisch: „We would like to pay“. In den wuseligen Umgebungsgeräuschen hat er‘s nicht verstanden: „Sorry?“ Besser wir sagen „Wir würden gern zahlen!“ und schon versteht er‘s akustisch, weil niederländisch dasselbe: talen. Überhaupt versteht der Belgier gut Deutsch, hier auch Französisch, Englisch und ist mit Niederländisch viersprachig.
Nach dem, was die Deutschen im ersten Weltkrieg in Löwen angerichtet haben (25. August 1914 Zerstörung), fühlt es sich komisch an, dass der Belgier sich deutschen Touristen unterordnet und im eigenen Land deutsch mit uns spricht, statt niederländisch von uns zu verlangen. Große Teile des Stadtkerns standen in Flammen, auch Sint Pieter kam zu Schaden, die Uni-Bibliothek brannte nieder, 1000 mittelalterliche Handschriften, 800 Inkunabeln und 300.000 Bücher zerstört. Das Rathaus blieb stehen, weil Quartier der deutschen Offiziere. Zivilisten wurden ermordet, in Britannien schrieb man von einem Holocaust, in Frankreich nannte man die Deutschen Hunnen. 1928 Unibibliothek wieder aufgebaut, amerikan. Architekt wollte Inschrift: Durch deutsches Wüten zerstört, mit amerikanischer Hilfe wieder aufgebaut , auf Latein. Der Uni-Rektor gegen die Inschrift: Für Aussöhnung mit Deutschland. 1940 besetzten Deutsche Truppen abermals Löwen, zerstörten ein zweites mal die Unibibliothek, und behaupteten, es seien Engländer gewesen (wiki).
So freundlich wie wir Deutschen heut hier behandelt werden, scheint der Belgier unendlich viel zu verzeihen.
Erster Tag, an dem ich ausschlafe. Mit Veerle vereinbart, 14 Uhr den Holzstich zu drucken. Vormittags paar Probedrucke, wo braucht‘s mehr Farbe, wo noch was rausschneiden, …
Veerle und ich drucken. Immer, wenn Veerle begeistert ist, letzte Woche schon, fragt sie: „Darf ich einen Druck mitnehmen und Wim zeigen?“ Kurz darauf kommt Wim mit dem Druck in der Hand, er ruft schon von weitem im Hausflur begeistert, und steht dann strahlend vor mir. Unterhalte mich mit ihm über Löwen, ich erwähne die sogenannte Schändung Belgiens. Er erzählt, das sei Belgiens Schicksal, als kleines Land zwischen Großmächten, von allen Seiten Franzosen, Engländer, Deutsche, …, Belgien sei keine Nation im eigentlichen Sinn, hat keine eigene Sprache, sondern ein Gemisch aus Völkern, niederländisch und französisch.
Nachmittags bekommt Veerle Besuch von zwei Galeristinnen. Während ich noch drucke, lassen sie sich von Veerle durch die Werkstatt führen, ich bin Werkstatt-Belebung. Als ich fertig bin und die Etagen hoch steige, sind sie in Veerles Arbeitsraum, Veerle wirbelt herum und holt Bilder und Bilder heraus, die sie mit einigen Worten jeweils vorstellt, und rundherum aufstellt. Die Galeristinnen halten in begeistert nachdenklicher Geste die Hand vor den Mund und nicken ergriffen, oder stemmen Hände in Hüften oder haben immer mal vor Überraschung etwas kurz zu kommentieren. Wim hat mich mit herein gerufen und zeigt mir seinerseits die Bilder, die Technik ist mir unbekannt, Art Fotokollage-Drucke auf großen Metallplatten, abstrakte Motive von ihren Reisen, Schweiz, London, Griechenland, Japan, Afrika, … Am Tag unserer Ankunft hatten sie uns erzählt, dass sie, seit sie 52 sind, sehr viel um die Welt reisen, bei Künstlern unterkommen und Künstler zu sich einladen.
18 Uhr Verabredung mit Sarah im Wattmann schräg gegenüber von unserm Haus. Christoph und ich sitzen schon, in verregneter Luft, vor warmer roter Backsteinmauer, unter sicheren Schirmen, als Sarah dazu kommt. Ich erzähle ihr von Löwen und der sogenannten „Schändung Belgiens“ und dass die Belgier trotzdem so lieb zu uns wären. Sarah guckt fragend: „So you mean, we should still be angry?“. Sarah hat nun auch Laura Donkers (England) eingeladen, sich für nächstes Jahr als artist-in-residence zu bewerben. Nach und nach könnten ja alle artists aus unserer Schwedt-Bekanntschaft hier residieren. Christoph sagt, wie wäre ein zweites Pleinair aller Schwedtler in Antwerpen, sozusagen „Klassentreffen“. Sarah erzählt, dass es schwer ist, als freie Künstlerin ernst genommen zu werden, wenn sie auch noch Grafikdesignerin ist. Ich ergänze, dass eine Malerin, die zum Lebensunterhalt irgend einen Job wie Museumsaufsicht ausübt, ebenfalls nicht ganz als Malerin ernst genommen wird, Hobby heißt‘s dann. Christoph weiß zu erzählen, dass ein Doktor für wissenschaftliche Arbeit nicht ganz ernst genommen wird, wenn er auch noch Lehrer ist. Sogar Leute, die weniger forschen oder Unsinn verbreiten, werden als Wissenschaftler ernster genommen als ein ernsthafter Wissenschaftler, der auch Lehrer ist.
Abendhunger. Hier gibt‘s Burger und Bowls. Sarah als Kundige bringt uns lieber auf den Libanesen nebenan. Sarah und ich Falafel-Wrap, Christoph Mezze (drei Schälchen mit diversen Köstlichkeiten, Fisch, Hähnchen, Teigtaschen). Wir tauschen uns aus, wie man Hugo von der Goes eigentlich ausspricht: Hügo van der Hus oder Chus, so ähnlich. Und Rogier van der Weyden: Rogier französisch, Rojee, van der Weyden das ey nicht wie der Deutsche sagt ai, sondern wie es da steht: e und y, also i. Auch das Hühnerei E i, nicht Ai. Als wir Plantin so aussprechen wie der Deutsche spricht, lacht sie, es heißt französisch (gesprochen Plantän), aber dann müsste es Plontän gesprochen werden, Christoph meint, vielleicht hat zu Plantins Zeit der Franzose das a noch nicht als o gesprochen, Plantän also alte französische Aussprache, niederländisch umgeschrieben entsprechend auch Plantijn (sprich Plantän). Und Breughel klingt wie Brüchel, das ch im Rachen, nicht am Gaumen, oder mehr noch wie ein gehauchtes g, so zwischen ch und g, das kann der Deutsche nicht. Das R immer hart gerollt, ob Wortmitte oder -ende, woran ich schon mal scheitern muss, während sich Sarah wundert, wieso Berlin wie Bealin gesprochen wird (kein r). Antwerpen ist ihre Geburtsstadt, aber sei auf die Dauer nicht attraktiv. Löwen dagegen sogar zu schön. Süden von Brüssel (Brussel Zuid) wär genau richtig. Christoph ist Leipzigs überdrüssig, Sarah sagt, alle seien immer ihrer Heimatstadt überdrüssig und der Fremde begeistert. Natürlich reden wir viel über Drucktechnik. Sarah hat eine eigene Tiefdruckpresse erstanden und arbeitet deshalb nicht selbst in Veerles Werkstatt.
Kaum merklich ist es schon 22 Uhr geworden. Sie kommt noch kurz mit in Veerles Werkstatt meine Drucke angucken. Christoph und sie einig, dass hier noch bisschen so und dort noch bisschen so, nicht viel, fast gar nichts weiter, aber so, dass noch was muss. Morgen also allerletzte Korrekturen.
Morgens die besagten Fast-Nichts-Korrekturen am Holzstich und wieder drucken. Veerle und Wim heute sehr ausgebucht: Meeting of the members of the foundation. Andauernd klingelt es an der Tür, weil alle nach und nach eintrudeln, und muss Veerle oder Wim oder jemand durchs halbe Haus und die Treppen, um zu öffnen, und nicht mehr so gut zu Fuß. Christoph und ich haben am ersten Tag unserer Ankunft draußen vor der Tür verlegen nach der Klingel gesucht, kein Knopf da, an keiner Seite, keiner Wand, nirgends, bis Christoph rechts oben eine Metallschlaufe entdeckt hat, eine Vorrichtung zum Glocke bimmeln, hab dann zaghaft bisschen dran gezogen, um nichts Historisches kaputt zu machen oder keinen Alarm auszulösen. Es machte kurz leise bing, vom Haus drinnen keine Reaktion. Bisschen mehr an der Glocke gezogen und hat‘s überraschend hell im Haus drinnen gebimmelt. Dann Hundebellen: „Ah, muss jemand zu Hause sein!“ Nach einem Weilchen, wenn der Fremdling anfängt, sich zu fragen, …, wurde schließlich die Tür geöffnet und guckte das liebe Gesicht von Veerle heraus.
Konferenzraum der Foundation ist über mir (über der Werkstatt) in der Stube von Veerle und Wim, es knarrt und schabt Stühle. Sehr lange Konferenz. Nach wohl 2 Stunden heftiges Diskutieren, jemand ganz in Rage. Bin mit Holzstich fertig, drucke Kaltradierung von Plexischeibe: das Wattmann schräg gegenüber an der Eisenbahnbrücke.
Irgendwann scharrelt ein langsames Schleichtappeln die Treppen herab, mir unbekannt, guckt eine Frau schüchtern zu mir herein. „I am looking for my husband.“ - „Oh, I am alone here, there was nobody here.“, antworte ich. Sie guckt trotzdem noch um alle Ecken und Dunkelkammernischen und zum Garten, als traut sie ihrem Mann zu, unbemerkt an wem vorbei geschlichen zu sein und sich still in dunklen Winkeln zu verstecken. Zehn Minuten nachdem die Frau wieder hoch gegangen ist, wieder ein fremdes Trappeln, ein Mann guckt herein - ob er der Gesuchte ist? Versteckt sich allerdings nicht heimlich in Ecken, sondern guckt meine Grafiken an und spricht perfekt Deutsch, er habe für Jahre in Deutschland gearbeitet, jetzt recht kurz angebunden, weil wollte nur mal kurz gucken, so weiß ich weder Namen noch was er in Deutschland gemacht hat.
Nachmittag. Christoph und ich in den Gewitterregen hinaus, von der Stadt Abschied nehmen. Soll besondere Veranstaltung sein, haben Sarah und Veerle seit gestern immer angekündigt: Giganten-Hunde, Marionetten, denen sogar die Augen blinzeln, Art Volksfest, aber Überraschung, wo genau sie zu welcher Zeit herumziehen. Wir sind ihnen leider nicht begegnet.
Besuch der Jakobskirche, mit Eintritt, imposante sehr besondere Barockausstattung, Dominikaner. Hier und dort ein Hund (als Skulptur, Stickerei, o.a.), der eine Fackel im Maul trägt. Weil Wortwitz nach Dominikaner: lateinisch Domini= des Herrn, canis= Hund. Der Hund, der das Licht der Wahrheit erspürt und trägt.
Enormes Beichtgestühl (wie Matsyskirche), hier zu beiden Seiten der Kirche, Jeder Stuhl so angelegt, dass Beichtvater in der Mitte, und rechts und links je ein Beichtender. Christoph sagt, der Beichtvater guckt grade aus und nimmt 2 gleichzeitig ab, dass kein persönliches Gespräch entsteht. So gehandhabt seit dem Konzil von Trient.
Christoph zählt, wieviele gleichzeitig abgefertigt werden konnten: 2, 4, … 10 Mann pro Kirchenseite! Standen Leute wie am Bahnschalter an u. warteten bis sie zum Beichten aufgerufen werden, stellt sich‘s Christoph vor.
Über linker Beichtstuhlreihe Gemäldesammlung, alle gleiches Format:
David Teniers, Rubens, de Bruyn, van Dyck, Jordaens, Vinckenborgh, Matthijs Vort, Dirk Aertsen. In sehr gleichem Stil, Rubens-artig, bzw. Rubens im Stil nach Caravaggio.
Chor Weiterführung des holzgeschnitzten Gestühls, mit Büsten, dunkleres, fast schwarzes Holz (oder gefasst?), gedrehte Säulen wie Architektur angelegt, tragende Löwen.
Orgel ebenfalls schwarzes Holz, massiv mit Brüstungen u. Etagen.
Als Krönung zu oberst und in goldenen Flammen sitzend ein Adler. (Jesaja 40,30-31)
Im Chor über dem Gestühl Statuen, Stifter u. Persönlichkeiten: im Chor also wichtiger als die Heiligen, die „nur“ die Arkaden des Langhauses zieren.
Im Hof etwas sehr Merkwürdiges: Ein künstlich imitierter Kalvarienberg. Künstliche Felsen oder wie Kleckerburgen architektonisch so angelegt, dass es bergartig aussieht, obwohl man ebenerdig, eben im Kirchhof herumläuft. Viele, viele Barockfiguren, große Heiligenversammlung. Direkt am Hof die Gärtchen und Hinterseiten von Wohnhäusern (ehemals Klosterhäuschen), die Familien können aus ihrer Terassentür, auf der Kirchhofwiese, dem Kalvarienberg, Ball spielen und gegen die Statuen schießen, das kann gar nicht vermieden werden. „Och, die halten das aus.“, meint Christoph und guckt zuversichtlich einen Heiligen an, besser Fußball als Calvinismus.
Letztes Mal Sitzen im Café, die Bierfestzelte am Rathaus nun weg, beeindruckender Blick auf die freien historischen Fassaden. Man kann beobachten, wie es zu den Abermillionen Instagram- und Facebook-Fotos kommt, wo jede Japanerin und jede Araberin und jede Spanierin und … sich vor einem Gebäude in künstliche Pose wirft wie für Haar- oder Hosenwerbung.
Abends von Veerle und Wim zum Abschiedsessen in ihrer Stube eingeladen, Vorsuppe, beste Käses, Schinken und Brötchen. Veerle meint, es sei heiß hergegangen, anstrengendes Meeting, sei immer so. Und seien schon paar von ihnen zwischendurch in die Werkstatt runter geschlichen, schnüffeln, welche Grafiken sie erwarten (meine Grafiken für die Foundation). Von wegen vermisster Ehemann? Vim und Veerle zeigen und erzählen uns viel über ihre Reisen und Kooperationen. Wim über seine Zeit als Journalist, sogar Audrey Hepburn hat er interviewt.
Veerle hat früher in der Grafikwerkstatt des Rubenshauses gearbeitet, bevor es reines Museum wurde, eine Etage über Rubens‘ Atelier. Rubens hatte dort seine Gemälde in Grafiken übertragen lassen und dann bei Moretus drucken lassen, damit die Abbildungen nach Frankreich und Spanien und überall hin kamen, und Gemälde bestellt werden konnten.
10 Uhr muss ich in die Werkstatt runter: vergessen, zu signieren. Wir wollen kaum an Abschied denken, Reisevorbereitung erst nachts: Sachen packen, sauber machen.
Veerle und Wim haben uns gestern abend ein schönes Gästebuch gegeben. Ich laufe reiseorganisatorisch die Treppen hoch und runter, zwischen Dach-Studio, orange-rotem Sonnenaufgang und kühlem Keller, der nach Lösemittel riecht und nach Arbeit ruft. Christoph ganz oben mit Blick auf die Dächer schreibt einen Gästebuch-Eintrag hinter meinen:
Antverpia proferendis pictoribus Roma felicior.
„Antwerpen ist, was die Zahl seiner (bedeutenden) Maler
betrifft, glücklicher: fruchtbarer, gesegneter als Rom“
So Sandrart zu Beginn seiner Rubens-Vita — und
selbstverständlich muß man auch die Schriftsteller und
Drucker hinzufügen! Labore et constantia: das war
einige Jahrhunderte lang ihr Motto; betritt man aber
die officina Room(s)iana - Persooniana: dann möchte
man zusätzlich sagen: Magno animo ac liberalitate.
So großzügig und großherzig sind wir hier empfangen
worden, und bedanken uns ganz herzlich für die 14
schönen und so kurzen Tage, die wir hier sein durften,
um zu lernen und zu studieren, die schöne Stadt kennen und
auch lieben zu lernen und kluge Gespräche zu führen. Ja, und
wenn es im alten Zedler-Lexikon heißt, daß Antwer-
pen im Ring der weiten Welt der Diamant ist, so funkelt
und strahlt er gewiß in der Cogels-Osylei Nr. 7 am schön-
sten und hellsten!
Und wir denken nun, beim Abschied, an Sam, dessen Stimme
uns hier als erste so freundlich empfangen hat, und dessen
Schicksal uns, auch nach kurzer Bekanntschaft, so traurig
macht: media vita in morte sumus.